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„Vielleicht ist es aus Versehen ein Theater geworden“ — Bullshit, She She Pop

Das Berliner Kollektiv She She Pop beschäftigt sich mit dem Verlust der gemeinsamen Wirklichkeit und stellen anderen Sichtweisen, verschreiben sich der Unsicherheit und widmen sich dem Vergessen. Im Durcheinander der Möglichkeiten, der zufälligen Wirklichkeit finden wir uns im großen Saal des Festspielhauses Hellerau wieder.

„Bullshit“ greift gesellschaftliche Probleme spielerisch auf und verpackt sie auf komödiantische Weise in eine Hülle aus Ironie, Leichtsinn und jede Menge Spaß. She She Pop, vertreten durch Sebastian, Ilia, Lisa und Mieke, beginnen das Stück direkt, während Eintreten des Publikums, welches von ihnen be(ob)achtet und kommentiert wird.  Mit dem Satz „Ich weiß, dass …“ öffnen sie einen sicheren Raum voll zufälliger Wahrheiten und unendlichen Möglichkeiten. Zum bemerkbaren Beginn der Performance ziehen sie nun eine metaphorische Grenze zwischen Publikum und Schauspielern, zwischen Realität und Fiktion. Diese Grenze wird während des Stückes allerdings mehrmals überschritten und die Wirklichkeit trifft auf Fantasie und Surrealismus. Es entstehen immer wieder Momente der Überraschung und Überforderung, beispielsweise durch die Nacktheit einer Performerin oder dadurch, dass plötzlich alle gemeinsam Leonard Cohens „Everybody Knows“ singen. Durch die Einbindung des Publikums wird ein gemeinsamer Raum geschaffen, in welchem gefühlt alles möglich ist — beispielsweise das Versteigern einer Säule oder der Echtheit einer Performerin. Die eigene Meinung gabs praktisch gratis zu ergattern. Mit viel Witz und Improvisation wird das Publikum schon in der ersten Szene animiert, für jeweils 4,99€, vermeintlich banale Dinge zu kaufen. Aber sind diese wirklich so banal und weit hergeholt oder steckt hinter der Fassade ein tieferer Gedanke, den es für einen Fünfer zu kaufen gibt? Immerhin haben die Performer*innen festgestellt, dass wir in einem System leben, indem wir uns ständig verkaufen müssen. So steht die Säule für Sicherheit und Standfestigkeit, die Echtheit der Performerin für das ehrliche Bekennen des eigenen Selbst. Es gibt den Boden der Tatsachen, die eigene Meinung, eine sehr angepriesene Sichtweise auf das Leben — alles, was für wichtig empfinden werden könnte und eine gute Basis für ein durchschnittliches Leben darstellt. Am Ende wurde sogar das eingenommene Bargeld an einen Menschen versteigert, um zu zeigen, wie schnell Dinge ihren Wert verändern können. Trotz dessen, dass viel gekauft wurde, bleibt auch einiges auf der Bühne, alles wollten die Performer*innen dann doch nicht hergeben.

Trotz einer klaffenden Leere auf der Bühne sind da noch immer die 4 Protagonist*innen. Sie teilen sich das Rampenlicht mit den drei Nebendarsteller*innen: eine Pflanze, eine große Lampe und einen sich drehenden Spiegel. Alle drei haben eigene „Stimmen“, welche zusammen Teile von „Everybody Knows“ singen, allerdings sehr verzerrt und nur schwer zu erahnen. Vielen wurde es erst im Publikumsgespräch im Anschluss bewusst. Das Verzerren der Stimme spielt auch im weiteren Verlauf des Stückes eine entscheidende Rolle, ob es während dem Singen ohne Nachahmen von Tieren ist. Die Tiere, oder besser: die Interviews mit ihnen sind Thema der zweiten Szene. In dieser wird ein neuer Raum aufgemacht, um herauszufinden, welche gemeinsame Wirklichkeit mit den Tieren zu vereinbaren ist. Dafür werden verschiedene Tiere interviewt, welche von Lisa gespielt und von Sebastian synchronisiert werden. Diese versuchen den Menschen klarzumachen, dass die Menschheit Schuld an der Zerstörung des Paradises und Verfremdung der Tiere und Menschen hat. Laut dem Biber haben Tiere nämlich früher einmal mit Menschen geredet. Auch Zecke und Schaf sind nicht unbedingt gut auf die Menschen zu sprechen. Tiere und Menschen sind also vermeintlich nicht mehr kompatibel und trotzdem finden sie Gemeinsamkeiten: mit dem Biber teilen wir uns den Dammbau und mit der Zecke unser Blut. Als eine Art Versöhnungsversuch singen sie – wer hätte es gedacht – „Everybody knows“.

Die Tierinterviews gehen schnell über in eine Dunkelszene. Wir sind nun in der dritten Szene, in der Tierwelt angekommen und sehen uns immer mehr mit Chaos, dem wortwörtlichen Durcheinander der Möglichkeiten konfrontiert. Mittlerweile haben die Darsteller*innen eine Metamorphose durchgemacht und inszenieren nun die bereits interviewten Tiere. Angelehnt an die Thematik einer Fotofalle von Wildfotograf*innen oder Jäger*innen bewegen sich She She Pop durch den Raum und müssen von einer Nachtsichtkamera eingefangen werden. Sie erleben nun die Welt, durch die Augen der Tiere und ganz für sich allein. Es ist schwer, während dieser Inszenierung viel zu verstehen und sich ein Bild von der Thematik zu machen, weil das Sichtfeld ist, oh Wunder, dunkel und wir erhaschen nur impulsartig Blicke auf die Tiere auf der Bühne. Um den Kreis zu schließen und wieder etwas mehr in unsere eigene Wirklichkeit aufzutauchen, schließt She She Pop ihre Performance, wie am Anfang schon, mit Leonard Cohens „Everybody Knows“. Die menschliche Sprache wird nun wieder in das Stück einsortiert und das anfängliche Gemeinschaftsgefühl erfüllt den Raum. Das Lied zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Stück und bietet halt in dem wunderbaren Chaos dessen.

In einem Publikumsgespräch nach der Vorstellung hat das Publikum die Möglichkeit, gesehenes zu Verarbeiten und aufkommende Fragen direkt an das Kollektiv zu stellen. Wir lernen viel über die Arbeitsweise und den Probenprozess des Stückes, aber auch einige Hintergrundgedanken werden erläutert. So wird beispielsweise erklärt, dass die Nacktheit von einer (später auch zwei) Performerin(nen) die aufrechterhaltende Fassade unserer Gesellschaft spiegeln soll. Von vorne sieht alles ganz normal aus, aber hinten rum kommt es ganz anders als gedacht. Auch in einem, von She She Pop geleiteten Workshop bekommen Teilnehmende einen tiefen Einblick in die arbeit des Berliner Kollektivs, wie sie miteinander arbeiten und bekommen so nochmal ein ganz anderes Gefühl für die Arbeit She She Pops.

Zusammenfassend empfehlen wir „Bullshit“ allen, die einen verwirrenden und gesellschaftskritischen Abend erleben wollen, sich in ihren eigenen Möglichkeiten verlieren wollen, nach einem Theaterstück suchen, das noch lange im Kopf nachhallt oder allen, die den Boden unter unseren Füßen für 4,99€ kaufen wollen!

Ein Text von Charly Harazim, Helene Lindicke und Tanita Gola

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🎙️ Kulturgeflüster als Podcast

Jetzt reinhören unter https://soundcloud.com/hellerau/sets/kulturgefluester-2024-25

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Die Welt passiert, aber wir tanzen weiter!

Zwischen Mitte November und Anfang Dezember wurde es in HELLERAU — Europäisches Zentrum der Künste laut, bunt und feministisch. Die Reihe „Tanzformen“ macht auf besondere Weise sichtbar, dass Tanz je nach kulturellem Hintergrund, Biografie oder Lebensumstand der Künstler*innen geformt werden kann und ein Mittel ist, um innere Zustände auszudrücken. Unter dem diesjährigen Titel „Empowering Bodies“ wurden künstlerische Arbeiten, denen eine widerständige Kraft innewohnt, präsentiert. Stets präsente Themen dabei sind Aufbegehren gegen gesellschaftliche oder politische Missstände, Selbstbestimmung und Emanzipation. 

Disney–Schurkin und bunter Tüll – „Shout Aloud“ von Yasmeen Godder & Dikla

Foto: Birgit Hupfeld

Den Auftakt der Reihe gestaltete die Tanz-Company um Yasmeen Godder gemeinsam mit der israelischen Sängerin DIKLA mit „Shout Aloud“. Bei diesem sehr ergreifenden Tanzstück performte Dikla ihr erstes Album „Ahava Musica“ live mit neun Musiker*innen im Großen Saal des Festspielhauses, während acht Tänzerinnen Ausdauer, Trauer, Widerstand, Ratlosigkeit und Zusammenhalt aus weiblicher Perspektive lebendig werden ließen. Aus Perspektive der Performenden war das zentrale Thema von „Shout Aloud“ Leben und das war auf alle Fälle zu spüren! 

Der Anfang gestaltete sich sehr still, das war einerseits hart auszuhalten, andererseits hat es zum „Spannungsbogen“ des Stücks beigetragen und hat die anderen Szenen nur verstärkt. Im Gegensatz zum ruhigen Anfang stand die Musik von Dikla. Diese war laut, rhythmisch und mitreißend auf allen Ebenen. Dikla sang in ihrer Muttersprache hebräisch, was das Stück zu einem sehr Persönlichen und Emotionalen machte. Es lagen zwar Übersetzungen der Lieder für das Publikum bereit, doch nur wenige haben diese aktiv genutzt. Sie alle waren in den Bann von Dikla und ihrer Musik gesogen, der dafür sorgte, dass die Zuschauer*innen, trotz Sprachbarriere, fühlten, was Dikla ausdrücken und vermitteln wollte. Zusammen mit dem unglaublich ausdruckstarken Tanz war die Botschaft des Stücks sehr deutlich, denn guter Tanz braucht keine Erklärungen. 

Die Tanzszenen lassen sich in zwei Kategorien teilen: Gruppen- und Solotanz. Die Momente, in denen allen zusammen getanzt haben, waren sehr beeindruckend, weil sie sich alle immer wieder zu einem synchronen Pulk zusammengefunden haben. Doch auch jedes Solo war einzigartig, denn fast alle Tänzerinnen standen zu einem Zeitpunkt allein im Fokus und konnten sich selbst durch den eigenen Tanzstil ausdrücken und ihre Geschichte erzählen. Genauso expressiv waren die Kostüme. Die Tänzerinnen trugen bunte Röcke und Kleider aus Tüll- bzw. Organzastoff. Diese waren schrill und neon, gleichzeitig und vielleicht auch dadurch, beeindruckend. Die Stoffe waren sehr durchsichtig, was die Tänzerinnen fast nackt erschienen ließ. Nacktheit wird in der Gesellschaft stets mit Verwundbarkeit in Verbindung gebracht, auch dies verstärkte die Botschaft des Stücks. Dikla hingegen trug zuerst ein schwarzes Kleid, was (auf positive Weise!) zusammen mit ihrer Ausstrahlung an eine Disney–Schurkin erinnerte. Schon bald zog sie sich um und trug, ähnlich wie die Tänzerinnen, ein auffälliges und ausdruckstarkes Gewand. Gemeinsam, mit dem bunten Licht, fügten sich also die Kostüme zu einem bunten und vielfältigen Abenteuer für die Augen! Besonders einfühlsam war die Unterbrechung des Stücks, die von den Performer*innen ausging. Sie sprachen das Publikum direkt an und vermittelten, dass es sich hier um einen sicheren Raum für alle handle, sich alle wohl, sicher und frei fühlen sollen. Alles sei erlaubt —sich im Sitz zu bewegen, aufzustehen, für sich selbst mitzutanzen, sogar rauszugehen und wieder reinzukommen gehe klar. Hauptsache: alle fühlen sich wohl und haben einen schönen Abend zusammen. Etwas schade, dass das Publikum zum Großteil nicht darauf reagierte, sondern trotzdem die ganze Zeit sitzen blieb und eher still das Geschehen genoss. Ein ähnliches Erlebnis berichteten auch die Performer*innen. Da sie in ihrem Heimatland sehr berühmt sind, waren sie ein so „klatschmüdes“ und schüchternes Publikum nicht gewohnt.  Trotzdem war „Shout Aloud“ von der Yasmeen Godder-Company & Dikla der perfekte, powervolle Auftakt für die Reihe „Tanzformen“! 

Konfettiregen und nackte Füße – „ZONA FRANCA“ von Alice Ripoll & Companhia Suave 

Foto: Renato Mangolin

Auf der Bühne von „ZONA FRANCA“, inszeniert von Alice Ripoll und der Companhia Suave, war bereits vor Stückbeginn viel los. Während des Einlasses war ein Teil der Performer*innen schon auf der Bühne, hat musiziert und getanzt. Das war ein schönes Willkommen, um sich direkt in das Stück einfühlen zu können. Grundlegend geht es in „ZONA FRANCA“ (zu deutsch: Freihandelszone) um das Bestreben einer jungen brasilianischen Generation nach Selbstbestimmung und Freiheit. Zwischen politischem Tumult, wirtschaftlichen Ungleichheiten, traditionellem sowie zeitgenössischem Tanz lässt das Stück die Vision einer Welt entstehen, in der alles in vollkommener Offenheit geteilt werden kann. Der Beginn des Stücks gestaltete sich dann jedoch anders als erwartet. Ohne jegliche musikalische Untermalung fingen die Tänzer*innen an, sich zu bewegen. Diese Momente der Stille – Szenen ohne Musik gab es oft – waren sehr schwer auszuhalten, haben aber die Wirkung der kraftvollen, bunten und lauten party-mäßigen Tanzszenen mit Musik absolut verstärkt. Aber ob mit oder ohne Musik, die Performer*innen haben sich durch ihre unterschiedlichen Stile so gut ausdrücken können, dass einem ein buntes Bild an Menschen und Persönlichkeiten mit sehr beeindruckenden Tanzstilen und -moves präsentiert wurde. Generell gab es unterschiedlichste Szenen — von improvisierten Solis bis hin zu choreografierten Ensemble-Tänzen war alles dabei. Gerade die synchronen Gruppenszenen waren unglaublich kraftvoll und haben schon allein beim Zugucken Spaß gemacht und zum Mitwippen angeregt, doch auch jedes Solo war für sich ausdrucksstark, intim und auf allen Ebenen — Bewegung, Botschaft und Ästhetik — interessant. Allerdings sahen die Tänzer*innen zwischen Passinho, HipHop und Twerken eher verloren aus und die Tänze wirr, das Publikum wurde mit unerwarteten Tänzen konfrontiert. 

Über den Künstler*innen hingen große Luftballons, gefüllt mit Konfetti. Diese wurden in mehreren Momenten platzen gelassen, dienten als Art „Aufwecksignal“ nach den ruhigen Szenen und der Konfettiregen jedes Mal als Überraschung und Erfreuen des Publikums. Neben den Luftballons fanden noch andere Requisiten ihren Einsatz auf der Bühne. So zum Beispiel ein rotes Fahrrad, dass an einen Lieferservice erinnerte oder ein frischer Broiler, der verspeist wurde. Das Fahrrad soll darauf aufmerksam machen, dass in Brasilien immer mehr Menschen als Fahrradkuriere arbeiten, die sogenannte „Uberisierung“ spielte schon in der Vergangenheit der Tänzer*innen eine große Rolle. In einem Interview (Loeb, Lea (o.A.): Wir wagen wieder zu träumen: https://www.theaterspektakel.ch/beitrag/interview-alice-ripoll (11.12.24)) erzählt die Choreografin Alice Ripoll, dass die Performer*innen in ihrer Kindheit Armut erlebt haben. In „ZONA FRANCA“ bekam das Publikum einen spannenden Einblick in diese Lebensrealität: die Versuche, die Langeweile durch eigene Erfindungen zu überbrücken, das Streben nach einem eigenen Ausdruck wurde durch Tanz und Theater verständlich gemacht. Das harmonische Miteinander wurde durch die letzte Szene für die Performer*innen verstärkt, für das Publikum wohl aber gebrochen. Nachdem sie ein letztes Mal zusammen getanzt haben, fingen zwei Performer*innen an, sich gegenseitig abzulecken und sich ihre nackten Gliedmaßen gegenseitig in den Mund zu stecken. Währenddessen wurden sie auf einem Wagen sehr langsam über die Bühne gerollt, wahrscheinlich um zu zeigen, dass in der Freihandelszone wirklich alles in vollkommener Offenheit geteilt wird. Diese Szene zog sich sehr lang und hat die positiven Gefühle und Stimmungen gegenüber den Tanzszenen etwas zerstört, weil alles sehr deutlich gezeigt wurde und das Publikum nicht ganz wusste, was damit anzufangen ist. Insgesamt war es ein sehr interessantes, buntes und bewegendes Stück, es hätte nur mehr (bzw. öfter) von der Energie vom Anfang, dem gemeinsamen Singen und Tanzen gebraucht, um das Publikum ganz und gar zu verzaubern. Auch ein paar der ungewohnten Anblicke, zum Beispiel das Ablecken, hätten anders inszeniert werden können, um offene Fragen in den Köpfen zu vermeiden. Aber vielleicht war es auch das Ziel? Offene Fragen zu hinterlassen, das Publikum nachdenken zu lassen? 

Nach Ende des Stücks wurde es nochmal laut, bunt und beschwingt. Am 30.11. gab es eine Party, bei der eine Performerin der Companhia Suave aufgelegt hat und alle Performer*innen die Menge zum Tanzen brachten. Nur wenige Minuten nach Stückende standen bereits ein paar der Tänzerinnen im Saal und fingen an zu rhythmischen Beats zu tanzen — mal choreografiert, mal frei. Schon bald verwandelte sich der Dalcroze–Saal in einen Dancefloor und die Energie von den Tanzszenen im Stück war auf jeden Fall auch hier zu merken. Die Menge hatte sehr viel Spaß und schon bald tanzten alle miteinander – Profis und Laien. Es war ein sehr schönes durch– und miteinander, was den „ZONA FRANCA“– Abend perfekt abrundete! 

Rauchende Köpfe und dunkle Bühne – „She was a friend of someone else” von Gosia Wdowik 

Foto: Maurycy Stankiewicz

Mit “She was a friend of someone else” von der polnischen Performerin Gosia Wdowik wurde es ruhig und nachdenklich in HELLERAU. Wdowik erzählt, vor dem Hintergrund, dass Polen 2020 das Recht auf Abtreibung fast vollständig abschaffte, die Geschichte von Aktivistinnen, die sich gegen die Abschaffung der Abtreibung in Polen stark machten und immer noch tun und wie dieser Aktivismus die Frauen ausgebrannt hat. Im Mittelpunkt steht dabei die Aktivistin Agnieszka und wie sie versucht, basierend auf der Ausgabe des „STERN“ 1971, ein Projekt zu starten, um zu beweisen: Abtreibungen existieren! Schade war, dass sich die Narration sehr oberflächlich anfühlte, es fehlte Hintergrundgeschichte. Ein tieferer Einblick in das Schicksal von Agnieszka hätte dem Stück mehr Tiefe verliehen; es hätte dem Stück gutgetan. Die 3 Performer*innen auf der Bühne hatten jeweils eigene wichtige Rollen, eine eigene Perspektive. Gosia Wdowik selbst lag das Stück über nur auf einer Matratze, aus ihrem Körper stieg Rauch. Sie repräsentierte die Perspektive der ausgebrannten Aktivistin, die keine Kraft für nichts mehr hat – zusammen mit dem Rauch eine sehr einfache, aber eindrucksvolle Visualisierung eines Burnouts. Die Zweite auf der Bühne hat stets versucht, Wdowik zu motivieren, ihr beim Aufstehen zu helfen, sie aus ihrem Burnout zu befreien. Und dann gab es noch die Erzählerin, die dem Publikum verbal die Geschichte von Agnieszka und anderen Frauen vermittelte. Dabei sprach sie immer von „SIE“/“IHR“. Dieses Synonym steht für alle Frauen, die im Rahmen dieser Produktion befragt wurden, um ihnen die Anonymität zu schenken, aber trotzdem die geteilten Erfahrungen ans Licht zu bringen und laut zu werden. „She was a friend of someone else“ fand in einem sehr intimen Rahmen statt: nur 70 Zuschauer*innen hatten auf der kleinen Bühne Platz, wodurch die Performance noch sehr viel persönlicher und näher wirkte, eine eindeutig richtige Entscheidung für ein so sensibles Thema. Deswegen brauchte es auch kein aufwendiges Bühnenbild oder auffallende Requisiten — es kamen Matratzen, Decken und zwei Bildschirme zum Einsatz, nur das hat gereicht, um einen beeindruckenden Effekt zu kreieren. Auf einem der Bildschirme wurden Augen projeziert, die Gosia Wdowik die ganze Zeit eindringlich betrachteten, zu interpretieren als die Augen der Gesellschaft, die die Aktivistin stets beobachten. Auch Interviews wurden hier gezeigt. Auf dem hinteren, größeren Bildschirm wurde das Cover der besagten „STERN“-Ausgabe gezeigt und im Verlauf des Stücks mit Bildern von, für diese Performance relevanten, Frauen aktualisiert. Diese multimediale Anwendung verlieh dem Stück tiefere Ebenen und der Handlungsstrang wurde über mehrere Erzählweisen geführt. So wurde zu einigen Dialogen ein Telegram – Chat gezeigt, da Agnieszka keinen persönlichen Kontakt zu den Frauen hatte, sondern nur per Nachricht mit diesen kommunizierte. Die räumliche Distanz, die die Verwirklichung des Projekts fast unmöglich machte, wurde durch diese Narration spürbar. Generell war „She was a friend of someone else“ eine sehr ruhige und statische Performance, auf der Bühne ist nicht viel passiert, dafür wohl in den Köpfen der Zuschauer*innen. Denn dieses Stück regte sehr zum Nachdenken, zum Reinfühlen ein. Um diesen Effekt zu verstärken, lud HELLERAU zu einem Publikumsgespräch im Anschluss der Aufführung ein. Gosia Wdowik gab einen tieferen Einblick in ihre Arbeit, erzählte noch mehr zu den Hintergründen des Stücks, wie und warum dieses zu Stande kam. Trotzdem fühlte sich das Stück nicht fertig an, eher wie ein Fragment mit zu vielen Beginnen, aber ohne ein Ende. Doch tatsächlich passt dieses Gefühl zum Kampf, Abtreibung zu entkriminalisieren, denn ein sichtbares Ende im Kampf um weibliche Emanzipation und (körperliche) Selbstbestimmung gibt es noch nicht.  

Wickeltücher und tiefe Gefühle – “New Report on Giving Birth” Wen Hui und Living Dance Studio

Foto: Jörg Baumann

Mit ihrem neuesten Werk, „New Report on Giving Birth“, brachte Wen Hui im Festspielhaus HELLERAU ein Stück auf die Bühne, das gleichermaßen berührt und aufrüttelt. Diese Performance, die als Weiterentwicklung von Huis „Report on Giving Birth“ aus dem Jahr 1999 gilt, stellte eindrucksvoll die Frage, wie individuelle Entscheidungen über Mutterschaft von gesellschaftlichen, kulturellen und persönlichen Einflüssen geprägt werden. Durch eine Mischung aus politischer Schärfe und persönlicher Offenheit gelang es dem Stück, eine intime Verbindung zwischen Bühne und Publikum zu schaffen. 

Die Themen der Aufführung waren vielschichtig. Ein zentraler Fokus lag, wie im ersten Stück auch schon, auf der Ein-Kind-Politik in China und ihren tiefgreifenden Auswirkungen – von der Bevorzugung männlicher Nachkommen bis hin zu den Konsequenzen für Frauen, die sich diesen Vorgaben widersetzten. Dazu erzählte Wen Hui auch ihre eigene Geschichte: sie hat sich aufgrund der gesellschaftlichen Zwänge in China bewusst gegen eigene Kinder entschieden. Stattdessen sagte sie, dass „alle Kinder ihre Kinder“ seien. 

Dem gegenüber standen Geschichten, die die tiefgreifenden Veränderungen, die Schwangerschaft und Geburt im Leben einer Frau bewirken können, thematisierten. Eine weitere Tänzerin erzählte von der überraschenden Entdeckung ihrer Schwangerschaft durch eine Blutung, während sie in der Dusche stand. Um das Baby behalten zu können, musste die ehrgeizige Frau, die nur selten Pausen einlegt, ihr Leben umkrempeln, was sie auch schaffte. Sie gebar das Kind und ist heute leidenschaftliche Tänzerin und Mutter. Mit intensiven Bewegungen zeigte sie eindrucksvoll, wie diese neue Lebenssituation ihren Blick auf den eigenen Körper und ihre berufliche Leidenschaft veränderte. Genauso lief es auch bei den anderen Performerinnen ab: während sie ihre Geschichte erzählten, vermittelten sie ihre Gefühle durch ausdrucksstarken Tanz. 

Die Choreografie war von einer tiefen Symbolik und visuellen Intensität geprägt. Schon zu Beginn trugen die Künstlerinnen ein mit Tüchern umwickeltes Bündel um ihren Körper – symbolisch für ein Baby, für den Beginn des Lebens. Diese Tücher waren das ganze Stück über ein zentrales Motiv und wurden in vielfältigen Formen eingesetzt: Sie wurden ausgebreitet, eingerollt, an Wäscheleinen gespannt, dienten als Leinwand für Projektionen und unterstrichen die Emotionen auf einzigartige Weise. 

„New Report on Giving Birth“ ging über eine bloße Tanzperformance hinaus. Es war eine einfühlsame und zugleich kritische Auseinandersetzung mit Themen wie Mutterschaft, Selbstbestimmung und gesellschaftlichem Druck. Die Offenheit und Stärke der Performerinnen berührten das Publikum nachhaltig und regten es dazu an, über die gezeigten Geschichten und ihre eigenen Perspektiven nachzudenken. Wen Hui und ihr Ensemble schufen ein Werk, das politisch und poetisch zugleich war – ein unvergessliches Highlight und ein passender Abschluss der Tanzformen-Reihe. 

Abschließend lässt sich sagen, dass “Tanzformen. Empowering Bodies” eine Reihe an sehr wichtigen, tiefgreifenden und bewegenden Stücken war, die in jedem Fall Spaß beim Zuschauen bereitet haben und eine bunte Perspektive auf die grauen Wintermonate geschaffen hat! 

Ein Text von Charly Harazim, Tanita Gola und Helene Lindicke

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Une tentative presque comme une autre / Ein Versuch, fast wie jeder andere auch 

Wenn man eine Veranstaltung mit Performance, Tanz, Zusammenhalt, Harmonie, Kontrast, Humor und trotzdem voller Emotionen erleben möchte, dann ist das Stück „Une tentative presque comme une autre /Ein Versuch, fast wie jeder andere auch“, im Rahmen von „Fast Forward  – Festival junger Regie 2024″ perfekt geeignet dafür.        In diesem Stück erzählen die beiden Protagonisten; Clément und Guillaume Papachristou ihre Geschichte mithilfe von Tanz, Performance und Dialogen am 16. und 17. November auf der Bühne des Festspielhauses HELLERAU. Die Geschichte von Guillaume Papachristou steht dabei im Vordergrund. Das Besondere der Beiden ist, dass sie Zwillingsbrüder sind, sich damit sehr ähneln und dennoch sehr verschieden sind. Guillaume lebt seit Geburt mit den Folgen einer Zerebralparese, einer Verletzung des Gehirns und ist daher immer mit einem Rollstuhl unterwegs.                 

Durch humorvolle und doch sehr emotionaler Dialoge der Zwillinge lernt man das Leben von Guillaume und vielen Menschen im Rollstuhl zu verstehen. Sie zeigen eine Tanzart die man sonst nirgends sieht, indem die Brüder sich aneinander über den Boden ziehen und immer wieder Blickkontakt mit dem Publikum aufbauen. und beziehen das Auch in ihren Dialogen beziehen sie das Publikum voll mit ein.

Wenn man sich dieses Stück anschaut, muss man sehr viel Lachen, während sich vielleicht die ein oder andere Träne blicken lässt.      Dies ist für mich ein großes Zeichen für die dahintersteckende Kunst, welche die Brüder erschaffen haben: sie sprechen wichtige Themen für unsere Gesellschaft an und zeigen uns die darstellende Kunst wie man sie noch nie betrachtet hat. Bis zum Schluss hatten sie das Publikum auf ihrer Seite, man könnte auch sagen sie waren verbunden mit ihnen.

Wenn man sich diese Show angeschaut hat, ist man sehr dankbar für Gesundheit und seinen individuellen Körper. Diese Show hat mich persönlich völlig überrascht und ich würde sie mir jedes Mal wieder anschauen.

Jolinda Schäfer

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Von Rhythmus und Verlässlichkeit

Das Festival „Young Stage“ in HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste schenkt Kindern und Jugendlichen nicht nur eine Bühne, sondern dient zugleich als Treffpunkt und Austausch­forum für junge Theater- und Tanzbegeisterte, Pädagog*innen und Künstler*innen. Unter dem Motto „shaking ground“ wurden für die diesjährige Ausgabe nach einer offenen Aus­schreibung sechs Projekte ausgewählt, die vom 05. – 09.06. im Festspielhaus Hellerau zu sehen sind. 

Darunter auch die Gruppe des Gymnasium Dresden Johannstadt mit 16 Schüler*innen, die im Rahmen einer AG, also außerhalb ihrer Schulzeit, an einer dieser Produktionen mitwirken. Anlässlich des Festivals entwickeln sie unter der Leitung von der Tänzerin und Choreografin Olimpia Scardi sowie der ausgebildeten Theaterpädagogin Kerstin Chill ein Stück, das mit großer Hingabe von der Verlässlichkeit der Rhythmen unseres Lebens erzählt. Das atmosphärische Tanzstück mit dem Titel „Change Rhythms“ setzt sich philosophisch und textlich mit Fragen auseinander wie: Wo finden sich Rhythmen in der Natur und wo in uns Menschen? Und wie lassen sie sich performativ verbinden?

Die Tänzerinnen im Alter von 11 bis 13 Jahren verfassen im Laufe des Probenprozesses eigene Texte, die von Schülerin Eli zu einem großen Ganzen zusammengefügt werden. 

Bei ihrer Recherche stießen sie auf die vier Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft, in deren Dasein und Zusammenspiel die Gruppe einige Parallelen zu (ganz) menschlichen Empfindungen sieht. Der ständige Wechsel unserer Gefühle sei auch nur eine Art Rhythmus, der umso erträglicher werde, je mehr man ihm vertraue und nicht zu lange in einer Emotion verharre.

So erhält jedes Element eine eigene Bewegungsqualität: Bei Feuer, welches hier für die Leidenschaft steht, sind es abgehackte, wippende Bewegungen und bei Luft dezente, schwebende Bewegungen hinter einer transparenten Folie. Bei dem Element Erde lassen sie sich inspirieren vom zeitgenössischen japanischen Tanztheater Butoh, welches Tänzer*innen dazu ermutigt, ohne feste Regeln oder Techniken intuitive Bewegungen zu finden und im Moment höchst präsent zu sein. 

Das Ergebnis: Eine spannende und berührende Collage, die überwiegend aus improvisierten Bewegungsabläufen besteht und einen ganz eigenen, verträumten und authentischen Charakter behält. 

Neben ihren tanzenden Mitschülerinnen sind da Noel und Liam, die sich Gedanken über die musikalische Begleitung der Choreografie gemacht und mit Schlagzeug und Klavier passende Themen erarbeitet haben. Mit ihrer Hilfe erhalten die verschiedenen Elemente nochmal zusätzlich Ausdruck und Wiedererkennungswert. Auch Kostüm- und Bühnenbild entstanden in enger Absprache mit der Gruppe. 

Wohnt man einer der Proben bei, merkt man schnell, dass “Teilhabe” für diese jungen Menschen längst kein Fremdwort mehr ist. Egal ob bei inhaltlichen oder choreografischen Entscheidungen: Allen geäußerten Meinungen wird gleichermaßen Bedeutung zugesprochen und am Ende immer ein Kompromiss gefunden. Das geschieht genauso zuverlässig wie freudvoll. Ein gemeinsames Herantasten, Ausprobieren und Weitergehen. Die eigene Sichtweise wird nicht nur sachlich offenbart, sondern je nach Wichtigkeit auch verteidigt und überarbeitet. Zustimmung wird mit wackelnden Händen gezeigt – der Gehörlosen-Gebärde für „Applaus“ –, um das Gegenüber nicht zu unterbrechen. Dieses Vorgehen macht großen Spaß und zeigt sich nicht nur in der Qualität der Proben, sondern sicher auch im Ergebnis. 

Für die meisten der Schüler*innen mag diese Art von Miteinander selbstverständlich sein. Aber als Erwachsene staunt man nicht schlecht über das Durchsetzungsvermögen einiger Beteiligten.

An diesem Gymnasium im Aufbau wird jedoch großen Wert auf Vielfalt und Flexibilität gelegt. Statt sich auf einen festen Lehransatz festzulegen, wird mit verschiedenen Methoden experimentiert, um die Schüler*innen bestmöglich auf die Herausforderungen einer modernen Welt vorzubereiten. Mit vielen Lernenden, die mehrsprachig aufgewachsen sind und deren Eltern aus verschiedenen Ländern stammen, sollte es kaum an Lebensrealitäten und Perspektiven mangeln. (Der Schultag startet 08:20 Uhr, ist von Doppelstunden sowie langen und bewegten Pausen geprägt und) neben der akademischen Bildung stehen interkulturelles Lernen, Demokratieförderung und kulturelle Bildung im Fokus. Darüber hinaus seien Eltern und Schüler*innen aufgerufen, sich aktiv am Schulgeschehen zu beteiligen und die Schule mitzugestalten, liest man auf der Website der Schule. 

Solche Momente der Selbstwirksamkeit scheinen auch in der Erarbeitungsphase des Tanzstücks einen großen Einfluss auf die Zufriedenheit mit dem eigenen Projekt zu haben. 

Eigene Ideen einfließen zu lassen und am Ende das Produkt (re-)präsentieren zu können, gebe ihnen ein gutes Gefühl, erfährt man im Gespräch mit den tanzenden Schüler*innen. Was ihnen am meisten an den Proben gefiel, sei außerdem, dass man im Nachhinein auf etwas (und zwar auf sich selbst und die Gruppe) stolz sein könne. 

Am schwierigsten sei es, die eigene Konzentration über die gesamte Probenzeit aufrecht zu erhalten. Auch das Entwickeln und Verinnerlichen eigener Choreografien habe sie schon vor große Herausforderungen gestellt. (Noch dazu käme, dass jede zweite Woche direkt vor den Tanzproben der Sportunterricht anstünde. Da fragt man sich, wo die Kinder dann noch Energie hernehmen.)

Doch den Spaß an Tanz und Bewegung haben einige von ihnen nicht erst bei diesem Projekt entdeckt. Ballett und Hip-Hop sind nur zwei der Tanzstile, die die eine oder andere schon im Verein außerhalb der Schule getanzt habe. 

Die Gruppe fusionierte für das Projekt aus den ehemaligen GTAs Tanz und Theater, wobei erstere von Olimpia Scardi und letztere von Kerstin Chill geleitet wurde. Sie schlossen sich zusammen und entwickeln arbeitsteilig mit der Großgruppe das Stück mit sowohl theatralen, performativen als auch choreografischen Elementen. 

Während mit Olimpia Scardi mit Witz und einer feinen Prise Strenge überwiegend die choreografischen Puzzleteile zusammengefügt werden, lässt Kerstin Chill ihr Know-How vom darstellenden Spiel und den Performing Arts einfließen. Ein Teil der Gruppe kennt sie schon aus den zwei Jahren GTA Theater, somit ist ihre Arbeitsweise, die auf Augenhöhe und nach demokratischen Prinzip funktioniert, hier bereits bekannt und findet erneut Anwendung. 

Dann ist es auch nicht schlimm, wenn eine Tänzerin vor lauter Schreck ihre Choreo vergisst und für ein paar Minuten auf ihre Improvisationskünste angewiesen ist. Sieht trotzdem schön aus. Und das wird ihr dann auch so gesagt. 

Am Ende der Probe ist die Luft dann buchstäblich raus. Doch Kraft für eine Diskussions- und Auswertungsrunde kann immer noch aufgebracht werden. Schließlich steht in ein paar Tagen eine Werkschau vor den anderen Schüler*innen an und dann ist bald schon der große Auftritt.

Diese Schule bietet einen passenden Raum, um sich bereits als junger Mensch darin zu üben, sich und seine Mitmenschen als mündige Personen zu begreifen, Selbstvertrauen zu stärken und Perspektiven anderer mitzudenken.

Da kommt ein solches Projekt wie ein Tanzstück natürlich sehr gelegen: Gemeinsam etwas schaffen, was noch dazu schön aussieht und klingt! Hier ist das Konzept des Festivals mehr als aufgegangen. Oder um es mit den Worten Olimpia Scardis zu sagen: „Das sind tolle Leute!“

Ein Text von Henrike Ehrhardt

„Change Rhythms“ hatte seine Uraufführung am So 09.06., 17:30 Uhr im Rahmen des Festivals „Young Stage“ in HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste. Der Text entstand in Begleitung zu den Proben.

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Theater

Theaterprojekt „Glaube Liebe Zukunft“ – Prometheus im Festspielhaus Hellerau

  Am 27. Januar feierte das mobile Theaterprojekt „Glaube Liebe Zukunft“ – Prometheus seine Uraufführung in HELLERAU, anschließend wird es sachsenweit auf Tour gehen.

Ein Video an einer Leinwand. Kurze Ausschnitte und Aufnahmen der Darsteller sind zu sehen, dazu weitere zusammenhangslose Szenen: Eine Hand, die Klavier spielt, ein See.
Schlicht, ganz in schwarz gekleidet treten die 20 Jugendlichen – SchülerInnen des St. Benno Gymnasiums und des Berufsbildungszentrum aus Deutschland, Afghanistan, Somalia und Syrien – auf die Bühne. Was dann folgt, ist eine Aufarbeitung der Prometheus-Geschichte, eine Mischung aus Tanz, Gesang, Film, Schauspiel und Performance.

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Tanz und Theater

Zum ersten Mal in HELLERAU: „Open Grounds“ der Dresden Frankfurt Dance Company

Die Premiere von „Open Grounds“ der Dresden Frankfurt Dance Company am 27. November war für mich der Anlass, zum ersten Mal überhaupt das Festspielhaus Hellerau zu besuchen. Schon das Gebäude faszinierte mich in seiner Größe und Schönheit und die Faszination überdauerte den gesamten Abend: „Open Grounds“ ist ein Abend mit sieben Choreografien von Tänzern der Dresden Frankfurt Dance Company. Jede einzelne fesselte und zeigte gleichzeitig die unglaubliche Vielzahl an Ausdrucks- und Bewegungsformen des zeitgenössischen Tanzes.
„Chemical Creatures“, eine Arbeit von David Leonidas Thiel, gefiel mir am besten, weil es durch die Musik und die Kontroversität überzeugte: Der Kontrast zwischen den emotionslosen Masken und den durchaus hitzigen und mitreißenden Bewegungen war einerseits schön und andererseits sehr verwirrend und spannend zugleich.

Besonders faszinierend empfand ich auch die Wahl der Kostüme, da diese sehr angemessen für jedes Stück waren und durch ihre Farben und ihre Vielfältigkeit glänzten und anschaulich waren. Obwohl die Tänzer teilweise noch jung waren, fand ich die verschiedenen Figuren sehr professionell und treffend gewählt. Das Licht im letzten Stück des Abends „Transhuman Reflection“ war zuallererst verwirrend, aber zugleich polarisierend, es beschwor ein Gefühl der Angst und der Gefahr. Auch dieses Stück erzählte eine Geschichte: in der viele Menschen auf eine Person in einem Kreis einschlugen (wenn sie denn einschlugen) und sie nicht akzeptierten. Weg von den hitzigen Stücken zu den emotionsvollen Stücken, welche eine Liebesgeschichte für mich darstellten, die künstlerisch grandios war und die Gefühle fast perfekt zum Ausdruck brachte.

Das einzige Manko war für mich das Stück „Criss Cross“; weniger in seiner Thematik, als vielmehr, wie es an diesem Abend platziert war; die vorherigen Stücke hatten eine gewisse Spannung aufgebaut und „Criss Cross“ löste diese Spannung nicht ein. Choreograf Ulysse Zangs thematisierte darin eine Zerrissenheit, die in meinen Augen besser am Anfang des Abends aufgehoben gewesen wäre.  Aber alles in allem hat mich dieser Abend emotional mitgenommen – ein höheres Lob kann ich kaum aussprechen.

Ein Artikel von Victor Garrido Campos

Foto: Raffaele Irace

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Tanz und Theater

„Open Grounds“ der Dresden Frankfurt Dance Company im Festspielhaus Hellerau

Am Mittwoch, dem 29.11., fand im Festspielhaus Hellerau eine Premiere der ganz besonderen Art statt. Die Dresden Frankfurt Dance Company besann sich an diesem Abend weder auf das Erbe Forsythes, noch auf die neue richtungsweisende Direktion Jacopo Godanis. Die Tänzer und Tänzerinnen der Kompanie bekamen in „Open Grounds“ die Chance, eigene Visionen und Choreographien auf die Bühne zu bringen.

Dabei ging es nicht um Perfektion oder künstlerische Brillanz, sondern einfach um das befreiende Gefühl gerade einem Menschen dabei zu zusehen, wie er genau das auf der Bühne darstellt, was er möchte. Die Tänzer und Tänzerinnen konnten für diesen Abend aus dem Schatten der Choreographien anderer heraustreten und verschwanden nicht hinter vorgegebenen Tanzschritten oder Konzepten. So strotzte jede einzelne Performance nur so vor Individualität und der Persönlichkeit des jeweiligen Tänzers/Choreographen.

Besonders hervorstechend waren die Interpretationsvielfalt und der große assoziative Spielraum, den die sieben höchst unterschiedlichen Performances boten. Im Folgenden präsentieren Luisa Trobisch und ich, Elli Kneisel, unsere ganz persönlichen Interpretationen zu „Open Grounds“ – ohne vorher Titel oder Beschreibung der Stücke gekannt zu haben. Manches erscheint vielleicht weithergeholt oder überinterpretiert, aber dies sind ganz authentisch und unbearbeitet die Assoziationen, die unser Hirn an diesem Abend hervorbrachte.

1 WHOLE von Daphne Fernberger

Elli                          Die erste Performance hat für mich das Risiko, aber auch die Wandelbarkeit von menschlichen Beziehungen thematisiert. Vor allem die Verletzlichkeit aber gleichzeitig auch Stärke, die es mit sich bringt, sich einem Menschen völlig hinzugeben. Die sanften Bewegungen, die immer wieder ineinander verschmolzen aber dann wieder auseinander drifteten, haben für mich das Auf und Ab der inneren Gefühlswelt verbildlicht. Denn die menschlichen Emotionen sind nicht linear, sondern unterstehen ständiger Veränderung.

Lui                          Der Spot richtet sich auf zwei bunt gekleidete Tänzer. Wie Tentakel bewegen sich ihre Arme, die sich um den Körper des Anderen wickeln. Beide Tänzer sind das Sinnbild für Leben. Der Tanz wird zum Ausdruck für die verrückten und plötzlichen Geschehnisse, die sich im Leben eines Jeden verbergen.

Abendzettel      „[…] Wie können wir eins und dennoch zwei und dennoch viele sein […]? Zuhören, folgen, fragen und jene Tradition der Veränderung akzeptieren, die in der großen Natur der Welt wie in all ihren Versionen kleinerer Maßstab immer anwesend ist! In der wilden Natur kann man beobachten und bewundern, wie eng verwoben Mutter Naturs unterschiedliche Systemelemente sind.“

 

2 ARE_U von Felix Berning

Elli                          Das Thema dieser Choreografie ist Einsamkeit. Die Videosequenzen zeigen einen vereinsamten gequälten Menschen – immer wieder vor dem Spiegel stehend und gezwungen sich sich selbst und den eigenen Abgründen zu stellen. Auch auf der Bühne scheint der Tänzer, eingesperrt in einem hellen Lichtkegel, einen ewigen zermürbenden Kampf mit der eigenen Psyche auszutragen. Wie ein Alter Ego betritt eine zweite Tänzerin die Bühne, doch die Einsamkeit wird dadurch nicht aufgelöst. Beide führen ihre Bewegungen in perfekter Synchronität aus – fast wie ein Spiegelbild. Die Interaktion beider wird hektischer, immer wieder tauschen sie nervöse Blicke aus und versuchen den anderen abzuschütteln. Kann man sich selbst entkommen?

Lui                          Dunkelheit. Nur der Tänzer in der Mitte der Bühne wird vom Scheinwerferlicht in helles Licht getaucht. Dazu schaurige Klaviermusik, welche ich mit der Musik eines Horrorfilmes assoziiere. Der Tanz beginnt. Durch die erdrückende Dunkelheit, die den Tänzer umgibt, vermittelt mir das Stück einen Ausdruck der Einsamkeit.  Der zweite Tänzer, der auf der Bühne erscheint, tanzt nun synchron zum anderen Tänzer. Der Tänzer schaut in seiner Einsamkeit in eine Art Spiegel und sieht nur sich selbst.

Abendzettel      „Moralische Zerrissenheit mag in vielen Köpfen omnipräsent sein, jedoch ist festzustellen, dass die heutige Gesellschaft beinahe darauf konditioniert ist, Unsicherheit, Scheitern, Trauer […] zu verstecken oder gar zu unterdrücken. Die Menschen bilden sich ein, man sei hinter einer Fassade von Unnahbarkeit und Souveränität sicher. Hier geht es um […] emotionale Sicherheit, also Schutz vor Angriffen der Persönlichkeit. […] Bedeutet eine Mauer aus falschem Selbstbewusstsein und Emotionslosigkeit jedoch wirklich Sicherheit?

 

3 DUALITY OF BOTH von Claudia Philips

Elli                          Dieses Stück thematisiert für mich die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Mutter Natur liegt in einer Waldlandschaft verletzt am Boden und versucht sich vergeblich immer wieder aufzurappeln. Die beiden anderen Tänzer tragen jedoch eigene Konflikte untereinander aus und würdigen die am Boden liegende reglose Natur keines Blickes. Im Hintergrund sind immer wieder verzerrtes Vogelgezwitscher, brechende knarzende Eisschollen und dumpfe Unterwassergeräusche zu hören.

Lui                          Verzweigte Schatten zieren nun den Bühnenboden. Ein Mann steht und eine Frau sitzt auf der Bühne. Spinnenähnlich beginnt die Frau sich zu bewegen. Ein weiterer Tänzer erscheint auf der Bühne. Die Frau beginnt den einen, dann den anderen, zu umwerben. Beide Männer kämpfen miteinander. Am Ende steht für mich ganz klar fest: Es geht um Beziehungen. Liebesbeziehungen. Betrügen und den Kampf der Männer die Frau für sich zu gewinnen.

Abendzettel      „Im Lauf unserer Reise hier auf Erden begegnen wir allerhand Hindernissen, die wir selbst erschaffen, um uns zu befreien. Die schöne Dualität von beidem.“

 

4 CHEMICAL CREATURES von David Leonidas Thiel


Elli                          Diese verstörende elektronische Welt spiegelt für mich die Gefahren unseres digitalen Zeitalters wieder. Genau wie die Masken der Tänzer kann sich heutzutage jeder zahlreiche virtuelle Identitäten zulegen, die wenig mit der Realität gemein haben. Eine eintönige fast schon bedrohliche Bassline und eine mechanische unangenehme Klangwelt beschwören eine geistlose unmenschliche Atmosphäre herauf, in der verborgen und getäuscht wird und menschliche Emotionen durch glatte unbewegte weiße Masken ersetzt werden.

Lui                          Szenenwechsel. Ein Tänzer kauert auf dem Boden. In seinem Gesicht: Eine Maske. Der Tänzer beginnt sich zu hochfrequenter und übersteuerter Musik zu bewegen. Hier erinnert die Inszenierung an einen Horrorfilm. Dieser Tanz stellt für mich die neue virtuelle Welt dar. Jeder existiert in dieser Welt, aber dann irgendwie auch doch nicht. Jeder trägt (eine oder mehrere) Masken. Es gibt kein erkennbares „Ich“. Wer oder was ist Wirklichkeit?

Abendzettel      „Wir nehmen unsere Wirklichkeit durch rein chemische und elektromagnetische Impulse im menschlichen Gehirn wahr und verlassen uns auf die Komplexität dieser millionenfachen Reaktionen und Prozesse. Was wäre, wenn die Vorgänge nicht stattfinden würden?“

 

5 #TWOWITHTHREE von Anne Jung

Elli                          Die fünfte Performance handelt meiner Meinung nach von der Dekonstruktion traditioneller Beziehungsgefüge. Auf der Bühne waren klassische Symbole romantischer Liebe dargestellt, wie z.B. Rosenblätter, der nackte Körper in Form von hautfarbenen Kostümen und Klaviermusik. Doch statt einer Zweierbeziehung war ein Dreiergefüge zu sehen, das gut harmonierte und ausbalanciert war – Bewegungen flossen ineinander, mal dominierte der eine, mal hielt sich der andere zurück, mal bewegten sich alle drei gemeinsam im Einklang.

Lui                          Blumenblätter schmücken die Bühne. Die Bühne ist in Ihre verschiedenen Ebenen eingeteilt, auf welche sich nun drei Tänzer bewegen. Die Tänzerin allein, der Mann und die Frau, ein weiterer Mann und die Frau, beide Männer. Ich denke, es werden noch einmal Beziehungen thematisiert. Rosenkrieg? Zerbrochene Freundschaften? Ich bin ehrlich:  dieser Tanz bleibt für mich unerschlossen.

Abendzettel       „#twowiththree führt Bewegungen in einer abstrakt erzählerischen Weise zusammen, die aus der Inspiration des Liedes (hier gemeint: Sag‘ mir wo die Blumen sind) entstehen. Eine Bewegung führt zur anderen, eine Präsenz übernimmt die andere, eine Kraft übertrifft die vorhergehende und bilden zusammen ein Geflecht aus vergangenen und gegenwärtigen Möglichkeiten.“

 

6 CRISS CROSS von Ulysse Zangs

Elli                          Bei dieser Choreographie waren ein Gitarrist und ein Tänzer auf der Bühne. Dies rief bei mir sofort eine Videospielassoziation hervor. Der Tänzer bewegte sich synchron zu den Tönen der Gitarre. Dies schuf eine Art direkte Verbindung zwischen den Gliedmaßen des Tänzers und den Fingern auf den Saiten der Gitarre – eine Steuerkonsole, könnte man sagen. Die riesige Lichtröhre in der hinteren Ecke der Bühne erinnerte mich an alte Röhrenfernseher und Flimmerkisten. Ein Gitarrensolo mit einzelnem Spotlight thematisiert die Gefühlswelt und Einsamkeit des Spielers. Am Ende harmonieren beide in einer Art heilen Disco-Traumwelt – Spieler und Gespielter gemeinsam, jedoch immer noch abgewandt, distanziert, von einander.

Lui                          Eine helle Lampe steht auf dem Bühnenboden und erleuchtet einen Tänzer und einen Gitarristen. Der Tänzer beginnt sich zur Musik der Gitarre zu bewegen. Tanzend bewegt er sich auf die Leuchte zu, ihr Licht wird immer schwächer. Der Tänzer sitzt nun vor der Lampe. Schwächer: auch so werden seine Bewegungen, bis er nun auf dem Boden liegt. Die Lampe ist aus. Ja genau, es dreht sich um das Leben. Am Anfang tanzend mit voller Energie, dann innehaltend und schließlich erlöscht die Flamme des Lebens und der Protagonist stirbt/vollendet. Der Gitarrist spielt weiter auf seiner Gitarre, ein Keyboarder wird auf die Bühne geschoben, mit dem Rücken zum Publikum. Noch verrückter wird es, als eine Diskokugel an der Decke erscheint. Durch die beschwingenden Klänge der Instrumentalisten, überkommt es mich und ich beginne leise mit zu singen: „like a virgin … touched for the very first time …‘‘ Ich denke, man muss an manchen Stellen nicht seine Interpretationskünste unter Beweis stellen, sondern man kann sich auch einmal zurück lehnen und seine Ohren beschallen lassen und dabei nichts denken. Das will uns das Stück damit sagen.

Abendzettel      „Eine plötzliche Offenbarung, die uns für das Hier und Heute öffnet, die Erfahrung, dass Anfang und Ende Eins sind. Dass Kommunikation Schweigen bedeutet. Rein. Eine Idee. Ein Sinn.“

 

7 TRANSHUMAN REFLECTION von Joel Small

Elli                          Diese Performance erinnerte mich sehr stark an eine Nacht im Club, in der sich jeder in der Masse verlieren möchte, aber doch nur mit sich selbst beschäftigt ist. Die Tänzer bewegen sich zu elektronischen Beats – teilweise mit banalen Clubtanzschritten. Viele Bewegungsabfolgen sind dabei synchron – immer wieder grenzt sich ein Individuum ab, ordnet sich dann wieder der Masse unter, wird ausgeschlossen, umschlossen, eingeschlossen. Die riesigen Spiegelelemente auf der Bühne dienten dabei zur Selbstreflektion, erinnerten aber auch irgendwie an Badezimmerspiegel in einem Club, in denen man sich nach einer durchtanzten Nacht verschwitzt und außer Atem im Neonlicht betrachtet und sich fragt, was real ist und was nicht.

Lui                          Alle Tänzer stehen nun auf der Bühne, bekleidet mit skurrilen und futuristisch aussehenden Kleidungsstücken. Gemeinsam wird sich zum Takt der Musik bewegt. Die abgespielten Szenen assoziiere ich mit dem heutigen Gesellschaftssystem und der Unterdrückung des einzelnen Individuums. Es wird versucht sich zu entfalten, doch die anderen Tänzer zwingen die Protagonistin dazu, sich im Gleichschritt zu bewegen. Es gibt nun keinen der anders ist – alle sind gleich. Keiner ist einzigartig.

Abendzettel      „Lichtgestalten [kommen] aus dem Kosmos auf die Erde und bringen eine Botschaft. […] Durch Selbstreflexion und Bändigung ihres kollektiven Bewusstseins nehmen sie durch Tanz und Ritual eine andere Gestalt an. Sie entwickeln sich von der Gehbewegung über den Tanz zu einer höheren Stufe des Bewusstseins.“

Wir hoffen mit diesem Artikel konnten wir die Vielfalt und Freiheit, die zeitgenössischem Tanz innewohnt, hervorheben – und dass an diesem Abend nicht nur 7 verschiedene Stücke gezeigt, sondern hunderte verschiedene Stücke gesehen wurden.

 

Ein Artikel von Luisa Trobisch und Elisa Kneisel

Foto: Raffaele Irace

 

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Musik

Besuch aus Chemnitz: BLOND in HELLERAU

AM 21. MÄRZ WAREN BLOND ZU GAST BEI MAX RADEMANN IM DIENSTAGSSALON. EINE JUNGE BAND AUS CHEMNITZ , DIE GAR NICHTS MIT KRAFTKLUB ZUTUN HAT: ZWISCHEN SOFTPUNK UND KARAOKE HIPHOP, GESPRÄCHE ÜBER LÜGEN UND ZAHNSCHMERZEN: WIR WAREN DABEI.

Johann, Lotta und Nina,
Foto: Ines Eis

Drei Runden fährt der weiße Van auf dem Vorplatz von HELLERAU, bevor er sich eine Richtung aussucht, um dann wieder umzukehren und wieder umzukehren, bevor er stehen bleibt. Das passt doch, sage ich mir, sehr gut zu BLOND. Und tatsächlich: ein Chemnitzer Kennzeichen lächelt mich am 21.März, 16:30 durch die Fensterscheiben meines Büros an wie ein alter Bekannter aus den wilden Jahren meiner Jugend; mir wird warm ums Herz.

Voll Lek

Geschwister, die kann man sich nicht aussuchen, aber Johann(Guitar, Keyboard, Gesang), Nina (Gesang, Guitar, Keyboard, Tanz) und Lotta (Rap, Schlagzeug, Tanz), die mehr Geschwister sind als Geschwister, hätten sich bestimmt auch ohne Papa oder Mama ganz gut verstanden: im Kinderzimmer auf Pappgitarren und Pappschlagzeugen, so erzählen sie es Max Rademann, haben sie schon immer Musik gemacht, bis sie sich 2011 endlich entschlossen, es in die Welt zu gebären. Und sie nannten es BLOND. Das klingt dann ungefähr mal nach Softpunk, Indierock oder auch mal HipHop, oder wie sie sagen würden: voll lek*. Denn auch das machen sie: die Altersgenossen mit ihren Wortneuschöpfungen beglücken, wir drücken die Daumen, dass es für das Jugendwort 2017 reicht: voll lek [foll leck] ugs. für sehr gut (spread it!).

Romantischer Regen

Max Rademann moderiert und inszeniert schon seit 6 Jahren den Dienstagssalon im EZK HELLERAU, zu dem er monatlich Musiker zu sich auf die Bühne einlädt um zu plauschen und ein wenig Musik zu machen. Meistens bekommt er Vorschläge, wer denn als nächstes bei ihm zu Gast sein könnte, doch manchmal, wie bei der jungen Band aus Chemnitz, lädt er auch selbst ein: etwas ganz besonderes also, öfter als einmal bedankt er sich bei den drei hübschen Blonden, dass sie gekommen sind. An diesem Abend wirkt Herr Rademann etwas neben der Spur, redet oft um den heißen Brei herum: ist er aufgeregt, immerhin der erste Salon 2017, dann noch drei charmante Gäste, ein voller Saal. Oder doch die Zahnschmerzen, die ihn plagen, wie er dem Publikum verrät? Es bleibt offen, manchmal gelingt ihm auch der ein oder andere hübsche Satz, wie als er den Applaus mit dem Regen vergleicht- „…aber kein melancholischer, sondern so romantisch.“.

BLOND mit Max Rademann Foto: Ines Eis

Heißer Merchandise

Und so kann man auch den Abend beschreiben: das Licht und die Einrichtung, das gemischte Publikum, sowie die lockere Art der Band zaubert einen gemütlichen Abend, der einen erfüllt Nachhause gehen lässt: und wenn einem die Band gefällt, dann konnte man auch ihre EP erwerben, mit hübschen Kinderfoto vorne drauf und Bonustrack, auf dem die Nummer des BLOND- Sorgentelefons vorgesungen wird. Kritik, das sei ihnen wichtig: sie wünschen sich mehr davon und bemängeln die Aussagekraft von Hasskommentaren der Fans der Rapper, die sie manchmal covern. Wer es jedoch etwas erwachsener und bodenständiger mag, kauft sich ein Feuerzeug mit aufreizendem Aufdruck: zur Auswahl stehen drei Motive: Nina, Lotta und Johann oberkörperfrei – so, das sagt Nina, wollen sie auch herausfinden wer am beliebtesten beim Publikum ist: bisher war das ja Johann- aber kein Wunder: seine selbstbewusste Stimme und die coole Brille in Kombination mit einem Groupieschmelzendem Lächeln verzaubert jeden.

Ernst seien sie schon sehr früh geworden, sie würden schnell altern: wer jedoch ihre Facebook und Instagram Accounts kennt, sieht eher das Gegenteil, und auch das sympathische drei Fragezeichen Tattoo auf Ninas Arm deutet auf ihr inneres (und äußeres) Kind. Was sehr schön zum Kontrast mit ihren doch teilweise ernsten Texten steht. In einem Interview sagt Nina: „Die Songs handeln meistens über Liebe und die traurigen Seiten, die ein Mädchen so hat.“, fünf selbstgeschriebene Songs haben sie bis jetzt, vorher haben sie nur Cover gespielt.

https://www.youtube.com/watch?v=CcHAChhTcZE&list=PL7cHt6-vMLerDaYLCWyNlAngdp2BjJASE&index=2

Reise nach Jerusalem

Eine junge Band, die sich entwickelt: zum Positiven. Durch meinen Herkunftsvorteil Chemnitz hatte ich die Chance, ihre Anfänge mit zu erleben. Am Anfang noch mit kritischen Auge und „das hält sich nicht lange“ -Gerede, überzeugte mich der Abend vor allem durch ihre bunte Performance und ihr Umgang mit den Instrumenten. Lotta rappt besser als Nicki Minaj und Nina hat eine Stimme, die man wiedererkennt, das Schlagzeug rockt, Johann spielt nice Riffs. Was ich mir ein bisschen gefehlt hat: coole Solos, Schlagzeug, Bass, da geht noch was. Sehr schön auch die Abwechslung auf der Bühne: Mal spielt Johann, der blinde Beethoven, Keyboard, dann Bass, Nina kann auch mal am Keyboard stehen, oder Lotta kommt hinter dem Schlagzeug hervor und rappt Eminem, während Nina versucht mit dem Publikum ABBA zu singen. Man kann sich die drei auch gut bei SingStar vorstellen. Ganz schön wird es mit den sweeten Tanzperformances oder Ninas „in die Musik kommen“, individuell und lek.

Beim Dienstagssalon ist es üblich, wie der Name schon andeutet, dass das Publikum sitzt. Es gab also eine hübsche Bestuhlung mit den „bunten Sesselchen“ HELLERAUs, die jedoch nicht ausreichte, weshalb mit gewöhnlichen Stühlen, die bei Veranstaltungen im großen Saal genutzt werden, nachgeholfen wurde. Das hat die Atmosphäre nicht gestört; Nina schlägt vor, während der Lieder Reise nach Jerusalem zu spielen: leider ist es dazu nicht gekommen, dennoch wippte jeder mit dem Fuß oder mit dem Kopf im Takt der Songs, man konnte sich vorstellen, wie bei ihnen die Tanztürchen im Kopf aufgingen.

Tanztürchen, so kann man es nennen, wenn man sich vorstellt zu tanzen: zu der Musik von BLOND male ich mir aus, wie ich mein Leben umkrempele und die Sachen meines Ex-Freundes aus dem Fenster schmeiße oder Zigaretten rauchend mit dem Fahrrad durch die Stadt fahre. Und dabei habe ich weder einen Ex Freund noch rauche ich.

Drei Mal verbeugen sich die geladenen Gäste auf der Bühne, bevor sie sie mit einem Danke an alle diese verlassen. Max Rademann verabschiedet sich und seine Zahnschmerzen wurden hoffentlich durch die Musik etwas gelindert. Freunde und auch ein Familienmitglied reisen mit den jungen Musikern. Das Familienmitglied ist übrigens NICHT von der Band Kraftwerk. Und sowieso, wer hat behauptet, Kraftklub sei mit ihnen verwandt?!

*Lek ist übrigens auch die albanische Währungseinheit : 135,3 Lek sind zur Zeit 1€

Musik: Geschmackssache, zwischen ernsten Indie-Rock und Karaoke HipHop und etwas Humor jedenfalls eine gute Show

Format: Dienstagssalon ist eine gemütliche und gebende Veranstaltung, sehr gut geeignet für den wöchentlichen Kulturritualkatalog

HINGEHEN:

 Am 7. April zur BLOND Gala ins Nikola Tesla nach Chemnitz

Zum nächsten Dienstagssalon


Text: Bianca Kloß (FSJlerin in HELLERAU)

Fotos: Ines Eis, Ernesto Uhlmann

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Tanz und Theater

Tanzworkshop mit Joel & Ulysse von der Dresden Frankfurt Dance Company

Bon Iver, David Bowie, James Blake und Iggy Pop laufen im großen Saal des Festspielhauses Hellerau. Wir öffnen die Augen und lassen das Licht in uns, bewegen uns im Liegen in den Boden hinein und bewegen uns vor allem nach unseren Gefühlen, manchmal bewegt der Körper aber auch uns – wie das geht, haben wir von zwei Tänzern gelernt.

Die Workshopleiter

Joel und Ulysse geben jedem Teilnehmer des Tanzworkshops am 03. Dezember die Hand und stellen sich vor. Sie werden erst am Ende sagen, dass dies das erste Mal sei dass sie so etwas leiten, aufgefallen jedenfalls ist es keinem. Es sind nur 10 Teilnehmer, zwei Kinder unter ihnen, und die Hälfte ohne jegliche Tanzerfahrung. Englisch? Ulysse kommt aus Frankreich, wo er an der Ballettschule der Opéra national de Paris eine klassische Ausbildung erhielt, bis er 2014 nach Deutschland kam, um seine Ausbildung im zeitgenössischen Tanz zu fortzuführen. Joel, der wohl auffallendste unter den sehr charakteristischen Tänzern der Dresden Frankfurt Dance Company, kommt aus Australien, er sagt auf Deutsch, er könne nur ein bisschen Deutsch. Wir lachen zögerlich. Wie soll man sich Tänzern gegenüber verhalten?

Seinen Körper spüren

Wir gingen also auf die Tanzfläche, ein Kreis wurde gebildet. Hinlegen. Atmen. Spürt euren Körper, wie er reagiert. „Now move your legs.“ Schritt für Schritt bewegten wir jeden Teil unseres Körpers, „And now 10 seconds losing controll, okay? Just as much as you can, 10, 9, 8, …“ , was nach Spaß klingt, war ebenso Entspannung. Nach dem Liegen gingen wir in die „Doggy Position“, bewegten unsere Schultern, brachen zusammen, wiegten nach Hinten, Hüfte. Wir lösten unsere Hände vom Boden, und so kamen wir letztendlich nach und nach zum stehen- nach einem langen Prozess der eigenen Körperwahrnehmung. Man könnte es mit der Evolution vergleichen; wir fühlten uns gut.

 

Nachdem wir uns allein bewegt hatten, bestand die nächste Übung darin, die Tanzbewegungen eines Tanzpartners nachzuahmen- dabei übernahm nicht einer die Führung, sondern es entstand wie selbstverständlich eine gemeinsam ausgeführte Bewegungsabfolge, ohne sich abzusprechen, wann was passiert. Zugegeben, anfangs war viel Lachen dabei, immerhin öffnete man sich nun mit einer Person. Joel und Ulysse gaben dann Anweisung, sich nicht mehr nachzuahmen sondern sich nur noch voneinander inspirieren zu lassen. Mittlerweile tanzten wir alle verteilt auf der ganzen Bühnenfläche, als Joel sagt, wir sollen nun irgendjemand im Raum nachahmen. Und das taten wir. Stellenweise machten wir alle dieselbe Bewegung, wenn einer jemanden nachmachte, der ebenfalls schon jemanden nachahmte… es war ein Spiel, welches jedoch auch eine Ästhetik beinhaltete.

Zappeln, Klopfen und improvisieren

Danach fanden wir uns wieder in einem Kreis zusammen, lockerten noch einmal unseren Körper, bevor wir mit einer weiteren Übung zu zweit jeweils tanzen- oder zappelten: einer „klopfte“ sanft über den Körper des anderen, der sich nach Schnelligkeit und Heftigkeit des Klopfens bewegte. Eine Übung, die besonders den zwei Kindern gefallen hat.  Bevor wir den Höhepunkt des Workshops erreichten, sollte noch einmal jeder sagen, was ihm besonders gefallen hatte und was nicht. All die verschiedenen Bewegungen, die wir die letzte Stunde aktiviert hatten, sollten wir nun in einer zehn-minütigen Improvisationsperformance zeigen und kombinieren. Wir verteilten uns auf der Bühne, manche starteten liegend, manche stehend. Man versuchte, seinen Körper die Musik malen zu lassen, aber auch irgendwie in Zusammenspiel mit den anderen. Wie wir gelernt haben, ließen wir uns von unseren „Kollegen“ inspirieren, manchmal ahmten wir auch nach. Wie das wohl für Außenstehende gewirkt haben soll? Wie ein großes Durcheinander oder doch gewollt, künstlerisch, modern und schön? Während wir tanzten, stellte sich wohl keiner diese Frage, dafür haben uns Ulysse und Joel vorher schon in ein befreites Selbstbewusstsein geführt.

Eine kurze Abschlussrunde, alle sagen, dass es toll war. Befreiend, dass sie etwas gelernt haben. Sei es nun die Selbstwahrnehmung oder die Fähigkeit, mit anderen zu tanzen, nicht nur für sich allein. Jemand sagt, es wäre ein guter Yoga Ersatz, zweimal die Woche diesen Workshop und man sei ausgeglichen.  Die beiden fühlen sich geschmeichelt, sagen, sie haben auch etwas von uns gelernt und sich inspirieren lassen. Dass sie an einem Workshop Konzept arbeiten wollen.

Ein paar Tänzer der Dresden Frankfurt Dance Company kommen auf die Bühne und wärmen sich für das Training auf, während sich ein paar der Workshopteilnehmer noch Musiktipps von Ulysse und Joel geben lassen. Wie man sich Tänzern gegenüber verhalten soll? Die beiden haben sich das wohl auch gefragt: wie sollen wir uns nicht-Tänzern gegenüber verhalten? Während dieses Workshops sind wir alle gleich geworden, egal welchen Beruf wir hatten- und am Ende sind wir doch alle nur Menschen, die eines wollen: glücklich sein!

Merci beaucoup pour ce workshop!

Text von Bianca Kloß
Fotos von Sabrina Spurzem

Titelfoto: dresdenfrankfurtdancecompany.com