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„Vielleicht ist es aus Versehen ein Theater geworden“ — Bullshit, She She Pop

Das Berliner Kollektiv She She Pop beschäftigt sich mit dem Verlust der gemeinsamen Wirklichkeit und stellen anderen Sichtweisen, verschreiben sich der Unsicherheit und widmen sich dem Vergessen. Im Durcheinander der Möglichkeiten, der zufälligen Wirklichkeit finden wir uns im großen Saal des Festspielhauses Hellerau wieder.

„Bullshit“ greift gesellschaftliche Probleme spielerisch auf und verpackt sie auf komödiantische Weise in eine Hülle aus Ironie, Leichtsinn und jede Menge Spaß. She She Pop, vertreten durch Sebastian, Ilia, Lisa und Mieke, beginnen das Stück direkt, während Eintreten des Publikums, welches von ihnen be(ob)achtet und kommentiert wird.  Mit dem Satz „Ich weiß, dass …“ öffnen sie einen sicheren Raum voll zufälliger Wahrheiten und unendlichen Möglichkeiten. Zum bemerkbaren Beginn der Performance ziehen sie nun eine metaphorische Grenze zwischen Publikum und Schauspielern, zwischen Realität und Fiktion. Diese Grenze wird während des Stückes allerdings mehrmals überschritten und die Wirklichkeit trifft auf Fantasie und Surrealismus. Es entstehen immer wieder Momente der Überraschung und Überforderung, beispielsweise durch die Nacktheit einer Performerin oder dadurch, dass plötzlich alle gemeinsam Leonard Cohens „Everybody Knows“ singen. Durch die Einbindung des Publikums wird ein gemeinsamer Raum geschaffen, in welchem gefühlt alles möglich ist — beispielsweise das Versteigern einer Säule oder der Echtheit einer Performerin. Die eigene Meinung gabs praktisch gratis zu ergattern. Mit viel Witz und Improvisation wird das Publikum schon in der ersten Szene animiert, für jeweils 4,99€, vermeintlich banale Dinge zu kaufen. Aber sind diese wirklich so banal und weit hergeholt oder steckt hinter der Fassade ein tieferer Gedanke, den es für einen Fünfer zu kaufen gibt? Immerhin haben die Performer*innen festgestellt, dass wir in einem System leben, indem wir uns ständig verkaufen müssen. So steht die Säule für Sicherheit und Standfestigkeit, die Echtheit der Performerin für das ehrliche Bekennen des eigenen Selbst. Es gibt den Boden der Tatsachen, die eigene Meinung, eine sehr angepriesene Sichtweise auf das Leben — alles, was für wichtig empfinden werden könnte und eine gute Basis für ein durchschnittliches Leben darstellt. Am Ende wurde sogar das eingenommene Bargeld an einen Menschen versteigert, um zu zeigen, wie schnell Dinge ihren Wert verändern können. Trotz dessen, dass viel gekauft wurde, bleibt auch einiges auf der Bühne, alles wollten die Performer*innen dann doch nicht hergeben.

Trotz einer klaffenden Leere auf der Bühne sind da noch immer die 4 Protagonist*innen. Sie teilen sich das Rampenlicht mit den drei Nebendarsteller*innen: eine Pflanze, eine große Lampe und einen sich drehenden Spiegel. Alle drei haben eigene „Stimmen“, welche zusammen Teile von „Everybody Knows“ singen, allerdings sehr verzerrt und nur schwer zu erahnen. Vielen wurde es erst im Publikumsgespräch im Anschluss bewusst. Das Verzerren der Stimme spielt auch im weiteren Verlauf des Stückes eine entscheidende Rolle, ob es während dem Singen ohne Nachahmen von Tieren ist. Die Tiere, oder besser: die Interviews mit ihnen sind Thema der zweiten Szene. In dieser wird ein neuer Raum aufgemacht, um herauszufinden, welche gemeinsame Wirklichkeit mit den Tieren zu vereinbaren ist. Dafür werden verschiedene Tiere interviewt, welche von Lisa gespielt und von Sebastian synchronisiert werden. Diese versuchen den Menschen klarzumachen, dass die Menschheit Schuld an der Zerstörung des Paradises und Verfremdung der Tiere und Menschen hat. Laut dem Biber haben Tiere nämlich früher einmal mit Menschen geredet. Auch Zecke und Schaf sind nicht unbedingt gut auf die Menschen zu sprechen. Tiere und Menschen sind also vermeintlich nicht mehr kompatibel und trotzdem finden sie Gemeinsamkeiten: mit dem Biber teilen wir uns den Dammbau und mit der Zecke unser Blut. Als eine Art Versöhnungsversuch singen sie – wer hätte es gedacht – „Everybody knows“.

Die Tierinterviews gehen schnell über in eine Dunkelszene. Wir sind nun in der dritten Szene, in der Tierwelt angekommen und sehen uns immer mehr mit Chaos, dem wortwörtlichen Durcheinander der Möglichkeiten konfrontiert. Mittlerweile haben die Darsteller*innen eine Metamorphose durchgemacht und inszenieren nun die bereits interviewten Tiere. Angelehnt an die Thematik einer Fotofalle von Wildfotograf*innen oder Jäger*innen bewegen sich She She Pop durch den Raum und müssen von einer Nachtsichtkamera eingefangen werden. Sie erleben nun die Welt, durch die Augen der Tiere und ganz für sich allein. Es ist schwer, während dieser Inszenierung viel zu verstehen und sich ein Bild von der Thematik zu machen, weil das Sichtfeld ist, oh Wunder, dunkel und wir erhaschen nur impulsartig Blicke auf die Tiere auf der Bühne. Um den Kreis zu schließen und wieder etwas mehr in unsere eigene Wirklichkeit aufzutauchen, schließt She She Pop ihre Performance, wie am Anfang schon, mit Leonard Cohens „Everybody Knows“. Die menschliche Sprache wird nun wieder in das Stück einsortiert und das anfängliche Gemeinschaftsgefühl erfüllt den Raum. Das Lied zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Stück und bietet halt in dem wunderbaren Chaos dessen.

In einem Publikumsgespräch nach der Vorstellung hat das Publikum die Möglichkeit, gesehenes zu Verarbeiten und aufkommende Fragen direkt an das Kollektiv zu stellen. Wir lernen viel über die Arbeitsweise und den Probenprozess des Stückes, aber auch einige Hintergrundgedanken werden erläutert. So wird beispielsweise erklärt, dass die Nacktheit von einer (später auch zwei) Performerin(nen) die aufrechterhaltende Fassade unserer Gesellschaft spiegeln soll. Von vorne sieht alles ganz normal aus, aber hinten rum kommt es ganz anders als gedacht. Auch in einem, von She She Pop geleiteten Workshop bekommen Teilnehmende einen tiefen Einblick in die arbeit des Berliner Kollektivs, wie sie miteinander arbeiten und bekommen so nochmal ein ganz anderes Gefühl für die Arbeit She She Pops.

Zusammenfassend empfehlen wir „Bullshit“ allen, die einen verwirrenden und gesellschaftskritischen Abend erleben wollen, sich in ihren eigenen Möglichkeiten verlieren wollen, nach einem Theaterstück suchen, das noch lange im Kopf nachhallt oder allen, die den Boden unter unseren Füßen für 4,99€ kaufen wollen!

Ein Text von Charly Harazim, Helene Lindicke und Tanita Gola

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Ohne Vision, keine Zukunft

Eine verbreitete Furcht aus Kindertagen ist es, seine Eltern zu verlieren. An diesem Gefühl des Verlorenseins bedient sich das Tanzstück „Labyrinth“ des choreografischen Duos Miller de Nobili, das am 29.03 im Festspielhaus Hellerau seine Premiere feierte.  

Die Lebenswege der sechs zutiefst verschiedenen Charaktere überschneiden sich in dieser surrealen Inszenierung zu einer Traumwelt. Fragmentarische Szenen finden mit scheinbar unzusammenhängenden Texten gleichzeitig auf der Bühne statt. Der Effekt: pure Verwirrung.  

Ebenso absurd ist die Breakdance-Choreografie. Fabienne Deesker und Alessandro Ottaviani winden sich umeinander, beschnuppern sich, bepicken sich wie Tauben und stoßen sich weg. Die animalische Suche nach Nähe steht im Kontrast mit höflich distanzierten Phrasen. In der Kentucky-Fried-Dreams-Filiale antwortet man der Gruppe: „Zuneigung könnt ihr euch nicht leisten.“  

Die Entfremdung, unter der die Charaktere leiden, ist erdrückend. Mithilfe des harten Scheinwerferlichts lässt Geohwan Ju die Tänzer*innen einsam in der Dunkelheit zurück, während die Musik von Gabor Halasz bedrohlich anschwillt. Das Bühnenbild von Sabine Mäder ist ebenso trostlos. Der Boden wird ihnen wortwörtlich unter den Füßen weggezogen und die drei beweglichen Spiegel verstärken die Verzerrung der zuckenden Tanzbewegungen.  

Der Traum ist die einzige Hoffnung. Gemeinsam stellt die Gruppe all ihre unerfüllten Wünsche nach. Je absurder die Fantasien, desto lauter muss das Publikum lachen. Bis der Wunsch krankhaft wird: sich aufzuhängen.  

Jedoch ist es die Realität, die krank macht. Rassismen, Sexismen und Queer-Feindlichkeit scheinen die Charaktere tagtäglich zu verfolgen. Ungeschönt werfen sie sich allzu bekannte Beleidigungen an den Kopf. Der Charakter von Nam Tran Xuan möchte einfach nur gehört werden, während Niklas Capel von Weihnachtsessen berichtet, die zu Familienprozessen werden. Provokant wird das Publikum mit feministischen Problemfragen konfrontiert: Ist die Influencerin von Natalia Vagena wirklich emanzipiert, wenn sie ihren Arsch in die Kamera hält? 

Endlose Fragen. Dunkle Aussichten. Was wird aus unserer Zukunft? Was, wenn die AfD Regierungspartei wird? 

Die Gefahr ist allgegenwärtig. Der von Alessandro Ottaviani verkörpert Anzugträger schwingt Reden, die keinen Unterschied zwischen den Worten Martin Luther Kings, Mandelas, Trumps und Hitlers machen. Bis er zum Peiniger Philipp Lehmanns wird: Liegestütze. Weiter. Weiter. Dann stellt er sich auf seinen Rücken. Der Befehl: hoch. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt. Eine Frau aus dem Publikum ruft rein: „Es reicht! Wir haben’s verstanden.“ 

Trotz Charakterentwicklungen, die durch Kostümwechsel verdeutlicht werden, bleibt die Frage offen: Reicht es, um aus dem Labyrinth zu entkommen? Der Tanz der Künstler*innen war kreisend. Ihnen war es unmöglich aus der Wiederholung der Geschichte auszubrechen. Andererseits schickt uns der Endmonolog von Niklas Capel mit einem Appell aus dem Theatersaal: Wir alle sind Geschichten, die nur darauf warten, erzählt zu werden.  

Eine Rezension von Moon Ehrhardt

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Tanz und Theater Theater

„Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ im tjg

nach Manja Präkels ~ in einer Fassung von Nils Zapfe

Die Protagonistin Mimi wächst, getragen von einer vermeintlich idyllischen Kindheit, in der DDR auf. Ihre systemtreue Mutter prägt ihre jungen Jahre sehr, sodass Mimis Jugend von sozialistischer Pflichterfüllung getrieben ist, wobei die Frage nach dem Warum lange nicht gestellt wird. Während sie die Geschichte Ernst Thälmanns im Unterricht frei wiedergibt, unterbricht sie ein Mitschüler und versucht sie zu korrigieren. Die, durch das Gefühl ertappt worden zu sein, ausgelöste Scham, lässt sie mit Gewalt antworten. Anders als erwartet, wartet keine Bestrafung auf sie, sie wird für ihr Verhalten belohnt und ausgezeichnet, was Mimi ungewöhnlich erscheint, in ihr aber nicht den Wunsch nach Aufklärung aufkommen lässt. Kritische bis spöttische Kommentare das sozialistische System betreffend, spricht ihr Freund Oliver des Öfteren aus. Trotz dieser Reibereien entsteht zwischen den beiden eine Freundschaft, die besonders beim heimlich gemeinschaftlichen Essen von Schnapskirschen auf Familienfeiern zelebriert wird. Erste Brüche erfährt die Beziehung der beiden, als Oliver bereitwillig zusieht, wie Mimi von einer Gruppe älterer Jungs gemobbt wird. Dies hört erst auf, als Mimi selbst zur Mobberin wird und jahrelange Freunde nun mit den Schulhof-Tyrannen über Felder jagt. Auch sie, die Musterschülerin, wird wie alle anderen von dem Gefühl getrieben, nicht die Aussätzige sein zu wollen. Mit dem Alter kommt die Reflektion und sie distanziert sich von diesem Verhalten. Die Mauer fällt und alles scheint sich zu wandeln, so auch die Jugend. Mimis Umfeld scheint nur noch aus Punks und Skins zu bestehen, die sich unentwegt bekriegen, wobei die zweiteren klar die Oberhand behalten. Oliver, durch sein Umfeld beeinflusst, wird führender Teil dieser Gruppe und bekommt den Spitznamen Hitler. So stirbt Oliver für Mimi, von nun an ist er Hitler. Die Streitigkeiten der beiden Konfliktparteien schaukeln sich nach und nach so hoch, dass eine Person ihr Leben verlieren wird.

Das Stück erzählt sehr fein und authentisch die Geschichte eines Kindes, das zwischen BRD und DDR aufwächst. Mimi versteht teilweise das Verhalten ihrer Umgebung nicht, was in der Erzählung zu einer sehr neutralen Sicht der Dinge fernab von Ideologiekämpfen führt. Sie verteidigt Ernst Thälmann mit ihren Fäusten, jedoch keinesfalls aus sozialistischer Pflichterfüllung. Zudem geht das Stück auf die Macht der Gruppendynamik ein. Wie aus Freunden Feinde und aus Feinden Freunde werden und Ideologien sich, ohne zu hinterfragen, ausbreiten. Mimi ist ein Kind, das Halt in einer eigenen, selbst gesponnenen Geschichte sucht ­– rechtsextreme Tendenzen ihres Umfeldes bleiben Mimi dabei lange verborgen. Erst als ihr Jugendfreund Oliver zu „Hitler“ mutiert, fallen die Schleier der Geschichte. Nichts ist wie es vorher war. Skins gegen Punks und Ost trifft auf West.

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Ausstellung Kunst Tanz und Theater Theater

„Nebenan/Поруч – Unabhängige Kunst aus der Ukraine“

Europäisches Zentrum der Künste – HELLERAU

Das Festival „Nebenan/Поруч – Unabhängige Kunst aus der Ukraine“ vom 28. Juni bis zum 2. Juli 2023 bot eine faszinierende Auswahl an Performances, Konzerten, Vorträgen, Workshops und Gesprächen mit ukrainischen Künstler:innen und Wissenschaftler:innen. Die Vielfalt der Beiträge war beeindruckend und zeigte eindringlich, wie der Krieg die Biografien der Künstler:innen beeinflusst hat, sich in ihrer künstlerischen Praxis widerspiegelt und trotzdem nicht dazu geführt hat, dass sich die ukrainischen Künstler:innen klein machen – im Gegenteil!

Die Programmpunkte zeigten die Identität der Ukraine in all ihren Facetten. Sie offenbarten ihre reiche Tradition, ihre Geschichten, die popkulturellen Einflüsse und zeitgenössischen Ästhetiken. Die Darbietungen waren wie ein buntes Kaleidoskop, dass das Publikum mit seiner lebendigen und kreativen Energie mitriss.

Außerdem luden sie aktiv zum Austausch, zur Begegnung und zur Diskussion ein, wodurch wir Zuschauer:innen die Möglichkeit hatten, die Künstler:innen persönlich kennenzulernen und ihre Motivation und Leidenschaft zu verstehen.

Die Vorstellungen waren nicht nur sehenswert, sondern auch von großer Bedeutung. Sie zeigten uns die widerständige Kraft der ukrainischen zeitgenössischen Kunst, insbesondere in den Performing Arts. Angesichts des andauernden Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 war es bewegend zu erfahren, wie sich ukrainische Künstler:innen im Freiwilligendienst engagieren, als Sanitäter:innen und Soldat:innen tätig sind und ihre künstlerische Arbeit trotz der schwierigen Umstände fortsetzen. Ihr Mut und ihre Hingabe waren spürbar und inspirierend.

Besonders bemerkenswert war auch die Zusammenarbeit zwischen Künstler:innen, Initiativen und Institutionen. Das Festival schuf eine Plattform für neue kollaborative Arbeitszusammenhänge und Netzwerke, sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene. Es war inspirierend zu sehen, wie Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt zusammenkamen, um gemeinsam an Projekten zu arbeiten und Solidarität zu zeigen. Diese Vorstellungen, Begegnungen, Gespräche und Kooperationen werden uns noch lange in Erinnerung bleiben!

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„Vom Fallen und Fangen“ und vom Mutig sein

Zirkus-Theater-Festival im Societaetstheater Dresden

Türen symbolisieren eine Art Abschluss, Neuanfang, Eintritt. Wie oft am Tag öffnet man überhaupt eine Tür? Und wie oft schließt man sie? Geben uns Türen Sicherheit oder schirmen sie uns vor etwas ab?

Das Societaetstheater öffnete seine Türen beim Zirkus-Theater-Festival vom 01.-11.06.2023. Mit Kulturgeflüster haben wir uns die Stücke „Porte-a-faux“ und „Oder Doch“ angesehen und ließen uns von der Zirkuskunst inspirieren und verzaubern.

In „Oder Doch“ standen zwei Türen, welche gefährlich wackelig aussahen und man ständig Angst vor ungeplanten Unfällen hatte, in der Mitte des Raumes. Die zwei Protagonisten, Puppenspieler JARONTH und Trapezkünstler Moritz Haase, luden das Publikum ein in imaginäre Räume, Geschichten über Menschlichkeit, Beziehungen und akrobatische Höchstleistungen. Auf der Bühne entdeckte man immer wieder neue Elemente – wobei vor allem eine kleine Holzpuppe im Mittelpunkt stand, welche auf erschreckend realistische Weise zum Leben erwachte, als sie sich aus einer tristen Stoffpuppe aus dem Inneren befreite. Man hatte das Gefühl, das holzige Etwas habe einen Charakter – komisch, bestimmt, unsicher. Der kleine Kerl schaffte es, immer wieder Gelächter bei den Zuschauenden zu erzeugen, wobei einige Passagen sehr häufig wiederholt wurden, etwas einfach waren und somit wahrscheinlich nicht bei allen wackelnde Bäuche und Schenkelklopfer erzeugten. Dafür bin ich mir sicher, dass jede*r einen Moment des Staunens und der Verblüffung im Stück hatte. Spätestens als Moritz Haase auf einem Trapez inmitten der Bühne im weißen Rauch scheinbar zu schweben begann.

Gleichzeitig bewegte sich das Stück in seiner Dramaturgie ständig auf einem schmalen Grat zwischen Komik und Thriller. Beide Männer im zugeknöpften, schwarzen Anzug wechselten von romantischer Anziehung und freundschaftlicher Unterstützung zu gegenseitiger Manipulation, Kontrolle und Machtausübung. Es entwickelte sich ein Machtspiel, bei welchem der jeweils andere sich zu einer solchen Marionette wie auch die Puppe auf der Bühne entwickelte. Die einzelnen Szenen wurden allerdings oftmals wiederholt, weshalb teilweise die Spannung verloren ging und man mit den Gedanken abschweifte.

Eine zusammenhängende Geschichte, ein roter Faden, ging bei diesem Wechselspiel sowie Wiederholungen verloren und man wurde sich nach ungefähr der Hälfte des Stückes bewusst, dass man aus „Oder Doch“ mehr die Präsenz, Ästhetik, Absurdität, Körper – und Spielkunst aufnehmen kann. Regisseur Philipp Boë hat ein Stück entwickelt, welches sich lohnt, anzusehen, wenn man die pure Theater- und Akrobatikkunst versteht, ohne dabei eine Storyline zu erwarten.

„Porte-a-faux“ war zugegebenermaßen eine Vorstellung, welche wir uns ganz spontan und ungeplant angesehen haben und dementsprechend völlig erwartungsfrei und unvorbereitet in das Zirkuszelt im Alaunpark hineinstolperten. Nochmal großer Dank an das Soci, das wir diese Möglichkeit hatten. Uns wurde sogar ein Platz im Zelt zugewiesen, angeleitet von einem von der Decke schaukelnden Herren mit Taschenlampe. Unten watschelte ein Mann in einem langen Kleid und süßer Mütze herum und versuchte mit einer Mischung aus Französisch und Deutsch mit den Zuschauenden zu kommunizieren. Wenn man dem Seil der Schaukel oben an der Decke folgte, führte dieses zu einem Hocker am Holzboden, auf welchem ein langer langhaariger Mann mit verwirrtem Hundeblick saß. Als dieser versuchte, aufzustehen, schrie der von oben wie von der Tarantel gestochen, da die Schaukel nur vom Hocker gehalten wurde und gefährlich schnell absank, sobald sich der lange Mann erheben wollte. Das Gefühl, dass gleich ein fataler Unfall passieren würde, zog sich durch das gesamte Stück, weshalb permanent Spannung auf der Bühne gehalten wurde. Auch hier standen Türen im Mittelpunkt der Dramaturgie. Über sie wurde in einer erfrischend kindlichen, naiven Art und Weise philosophiert, über den Sinn gestritten und für akrobatische Kunststücke benutzt. Kaum vorstellbar, was man mit Türen alles anstellen kann und wie es möglich ist, auf zwei aneinander gelehnte Türen hochzuklettern und dabei ganz leicht zu balancieren.

Das Trio, gespielt von Simon Huggler, Luca Lombardi und Jean-David L’Hoste-Lehnherr, war unglaublich nahbar und charakteristisch. Jede Rolle wurde unfassbar gut und konsequent gespielt – da war der Mann im Kleid, welcher recht unsicher und ängstlich, gleichzeitig aber sehr präsent war und die Aufmerksamkeit oft auf sich zog, obwohl im Hintergrund in schwindelerregender Höhe der Zweite im Bunde gefährliche Kunststücke vorführte. Er war der lauteste, mutig (vielleicht manchmal etwas zu waghalsig) und beneidenswert unverkopft. Der dritte, Herr Hundeblick, ließ sich ziemlich herumschupsen, hörte aufs Wort und machte Sitz und gab Pfote, wenn die Herrchen den Befehl gaben. Naja so oder in der Art zumindest. Er begleitete das Stück mit Musik – die Instrumente waren überall versteckt und spielten teilweise wie von Zauberhand selbst. Generell hatte ich den Eindruck, dass diese Vorstellung über das übliche Zirkustheater hinausging und die Grenzen mutig und gelungen überschritten hat. Hier traf Theater, Musik, Poesie, Tragik, Komödie, Akrobatik, und ganz wichtig zu erwähnen: Magie und Zauberei, aufeinander. Das Wandertheater heißt „Théâtre Circulaire“ und schlägt seine Zelte auf Festivals, Theatern und kleinen, abgelegenen Dörfern auf. Dieser offene Bezug auf jegliches Publikum war besonders spürbar, als ich mich im Zuschauer*innenraum umsah und Menschen mit 60, staunend und mit offenen Mündern neben Kindern mit 1 Meter Größe habe sitzen sehen. Auch wenn ich ständig unruhig auf dem Stuhl hin ­– und her rutschen musste, vor lauter Angst, dass sich gleich jemand in diesen spektakulären Kunststücken, Sprüngen und Höhen ein Bein brechen würde – am Ende war es genau das, was mich im Stück so begeisterte. Ich habe selten ein so fesselndes, witziges und zutiefst menschliches Zirkusstück gesehen.

Manchmal braucht es keine multimediale Videoinstallation, 30 Spielende und aufwändige Lichtshows, um Menschen mit Zirkus und Theater zu erreichen. Die Einfachheit beider Stücke hat mich absolut überzeugt und vor allem „Porte-a-faux“ inspirierte mich, mehr Mut und Leichtsinn in mein Leben zu lassen, denn erwachsen und durchdacht zu sein verbaut uns oft große Chancen.

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LIEBE OHNE LEIDEN – eine Rezension

Ein kaputter Kronleuchter. Weinflecken. Ein Mann ohne Hose. Eine Frau im Hochzeitskleid. Eine Bühne. Die Anfangszenerie von LIEBE OHNE LEIDEN zeichnet das Ende von vielleicht so manchen unüberlegten Hochzeiten und den Anfang einer musikalischen Hochzeitskomödie.
Gezeigt wird die Geschichte eines jungen Paares vor dem Altar, ihrer eher chaotischen und egozentrischen Hochzeitsgesellschaft, einem exzentrischen Pfarrer und dem Schicksal eines Oberkellners, der als Fadenspinner versucht alles im Zaum zu halten und jegliches unüberlegtes Handeln zu verhindern. Doch wie es natürlich kommen muss, eskalieren die Konflikte explosionsartig und hinterlassen eine verwüstete Szenerie.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass diese Komödie von seiner Musik lebt. Klassiker, von einer Live Band begleitet, wie „Über 7 Brücken musst du gehen“ von Karat, oder eben auch „Liebe ohne Leiden“ von Udo Jürgens sind manchmal mehr und manchmal weniger geschickt in die Geschichte eingearbeitet. Diese Form des Musiktheaters bietet dem Publikum nicht nur Einsicht in die Schauspielkunst der Darstellenden, sondern verwöhnt es mit kraftvollen und emotionalen Stimmen. Besonders eindrucksvoll war für mich in diesem Zusammenhang die Darbietung von Holger Hübner, der den Vater des Bräutigams spielte, sowie von der Mutter der Braut, Nadja Stübiger.
Trotzdem, das muss ich aus meiner Jugendperspektive sagen, ist das Stück nur witzig, wenn man alle oder zumindestens die meisten Lieder kennt, das können keine Momente der Situationskomik oder besonders lustige Lachen aus dem Publikum wettmachen. Ja natürlich wurden aktuelle Stücke hereingeschoben wie „Hello“ von Adele oder „Der Rest meines Lebens“ von Kummer und Max Raabe, aber sie blieben in der Unterzahl. So muss ich sagen, dass es nicht direkt ein Stück für den Teil der Jugend ist, die sich nicht mit dem Musikgeschmack der Elterngeneration identifizieren kann. Schade eigentlich.

Dennoch gibt es wirklich gut gelungene Aspekte dieser Komödie. Besonders bemerkenswert gestaltet ist dabei die meist unkommentierte Skurilität bestimmter Ereignisse, bei denen man sich immer wieder Fragen aufkommen wie: „Was macht Bigfoot hier?“ oder „Was kann denn nur in dieser Box sein!?“ Oder auch die Interaktion mit dem Publikum z.B. zum Übergang in die Pause. Auch die Botschaft am Ende „What the world needs now is love“, gemeinsam gesungen von allen Figuren, zählte zu meinen Highlights des Abends. Dadurch wurde ein gelungener Kontrast zum vorherigen Verhalten der Figuren geschafft und vermutlich gleichzeitig ein Appell an alle Zuschauenden versteckt.

Zusammenfassend lässt sich für mich sagen, dass LIEBE OHNE LEIDEN ein Stück voller Höhen und Tiefen war, manchen überraschenden Wendungen und dann doch auch wieder schon x-mal gesehenen Humortechniken. Aber wer weiß? Schaut es euch an und bildet euch eure eigene Meinung!

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Allgemein Theater

Je oller, je doller – Die Travestie-Theatershow geht zu Ende

Sie treffen sich täglich um viertel nach Drei… am 01.02.allerdings zum letzten Mal.

Die Rede ist von Christel-Marie Popovic, Liliane Fiedler und Ottilie Neumann, den Hauptdarstellerinnen aus „Je oller, je doller – Die Travestie-Theatershow“ im Boulevardtheater Dresden. Nun geht die beliebte Musikkomödie in die finale Staffel.

Seit der Premiere am 16.04.2017 konnten Besucher die Inszenierung bereits über 50 Mal live erleben. Am 01.02.2020 findet die 56. und letzte Vorstellung der Erfolgsproduktion statt. Vorher sind die Tortenladies noch vom 24.-27.01. auf der großen Bühne zu sehen. Zum Abschied am 01.02. gibt es im Anschluss an die Show noch die „Disco im Foyer“.

Das Theaterstück erzählt die Geschichte dreier älterer Damen, die täglich bei Kaffee und Torte über das Leben philosophieren und die ein oder andere Anekdote zum Besten geben.

Hauptakteure sind Christel-Marie Popovic, eine aus Jugoslawien stammende Dame, die Design studiert hat, Liliane Fiedler, die weiß was sie will und sagt was sie denkt und sowas mal eine Miss-Wahl –in Rathen – gewonnen hat und Ottilie Neumann, der Konterpart zu Lilly, die ihr Herz am rechten Fleck hat und ihre große Liebe in süßen Leckereien gefunden hat.

Verkörpert werden die Damen von jungen Männern. Manuel Krstanovic (Christel-Marie), Andreas Köhler (Lilliane) und Michael Kuhn (Ottilie) schlüpfen in glamouröse Kleider und hohe Schuhe und präsentieren die besten Seiten der Weiblichkeit.

Ganz nach dem Motto „Aber bitte mit Sahne“ schlemmen die Drei ordentlich auf der Bühne.

Die Zuschauer erwartet eine turbulente Theatershow über Freundschaft, Liebe und das Leben. Versüßt wird die Show mit einer Menge feministischer Hits von Helga Hahnemann bis Gloria Gaynor und von Hildegard Knef bis hin zu Lady Gaga, einer Menge Kalorien, sowie viel Charme und Humor.

Neben vielen lustigen und verrückten Szenen und einer Pyjamaparty, gibt es auch einige bewegende Momente, in denen die Drei ihre emotionalen Seiten zeigen und Herzen zum Schmelzen bringen.

Selbst bei der anfangs unnahbaren Cordula kommt am Ende ein weicher Kern zum Vorschein. In der finalen Staffel wird die Rolle von Stefanie Bock (bekannt u.a. aus „KiKANiNCHEN“, „Verbotene Liebe“ und zahlreichen weiteren Produktionen aus dem Boulevardtheater Dresden) verkörpert, da Originalbesetzung Katharina Eirich Nachwuchs erwartet.

Wer nun noch einmal das Stück voller Musik und Tanz, Liebe und Herzschmerz, Witz und Glamour miterleben möchte, hat noch die Chance sich unter

https://boulevardtheater.de/produktion/je-oller-je-doller-die-travestie-theater-show.html

Karten zu sichern.

 

Beitragsbild: R. Jentzsch // Boulevardtheater Dresden

Beitrag: Lisanne Richter, Melina Israel

 

 

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Prosa – Ein Abend mit einer russischen Performance

Am 10. Januar waren wir zu Gast in HELLERAU – dem Europäischen Zentrum der Künste für die Eröffnung des Festivals mit dem ungewöhnlichen Namen „Karussell“, welches Kunst- und Kulturschaffende aus Russland zeigt, die zeitgenössische russische Performance Art in Dresden präsentieren. An diesem Abend sahen wir ein Stück des Regisseurs und Komponisten Vladimir Rannev:

Prosa

Ein anziehendes Bühnenbild. Mit schwarzen Platten ist der große Saal vom Boden bis zur Decke geteilt. Nach gehaltenen Eröffnungsreden erhebt sich ein Teil dieser Teilung. Ein umrahmter Raum wird sichtbar.

Ca 7x3m, ein Gefühl als würde man in einen Fernseher schauen; das visuelle Bühnenbild verstärkt dies: Von einem Beamer auf einen Netzstoff projizierte Illustrationen mit auf deutsch verfassten Sprechblasen als Text, schnell wechselnde Bilder, man liest mit. Versucht die Eindrücke zu bündeln und in
Verbindung zu bringen.
Dahinter bis zu 4 Schauspieler*innen. Zum Teil im Dunklen verborgen, in einem anderem Moment vom Licht in Erscheinung gebracht. Dank der Transparenz des Netzstoffes verschmelzen die Schauspieler*innen und die Illustrationen  zu einem Bild. Die Geschichte von „Prosa“ besteht so aus immer neuen Szenen, es wirkt wie aus einem Bilderbuch.

Eine dritte visuelle Ebene wird von Zeit zu Zeit sichtbar. Denn vor dem Netzstoff erscheinen schwebend die Abbildungen singender Frauen, ein Livemusik-Moment ohne die Sängerinnen wirklich ausmachen zu können. Nach dem Stück erfahren wir im Gespräch, dass die Sängerinnen unterhalb der Bühne stehen. Mit Spiegeln werden ihre Erscheinungen in den für die Zuschauenden sichtbaren Bereich reflektiert.
Ein trickreiches Stück.
Ein achtstimmiges Ensemble bringt vielfältige musikalische Klangteppiche hervor, verschachtelte rhythmische Passagen und schwebende Melodien, Mikrotonalität und Klänge wie aus orthodoxen Kirchen, gesungen mit russischem Text.

Die Bezeichnung dieses Stückes als „elektro-opera“ trifft in jedem Falle zu. „Prosa“ bedient sich zwei verschiedener Texte von russischen Autoren zur gleichen Zeit. Der Text des Autoren Yury Mamleev ist während des Stückes auf den Sprechblasen zu lesen, Anton Tschechows „Die Steppe“ wird von dem Frauenchor vorgetragen. Visuell beeindruckend und eine echte Herausforderung.

 

 

Text von Tilman and Maria Pätzold

Fotos: Olympia Orlova

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Theater

Medea – leicht und brutal

Medea die Kindsmörderin. Medea die rachsüchtige Hexe. Medea die Brudermörderin. Medea die Fremde. Medea die Täterin. Medea das Opfer.

Jede*r erzählt die Geschichte der Kolcherin, die Jason half, das goldene Vlies zu stehlen und dann mit ihm nach Korinth kam, anders. Schon in der Antike gab es verschiedene Versionen der Erzählung, die besonders prominent von Euripides und Christa Wolf niedergeschrieben wurde.

Die Darstellung der Medea in der Inszenierung der Schauspielregiestudentin Rieke Süßkow orientiert sich jedoch nicht an diesen beiden altbekannten Interpretationen der Geschichte Medeas, sondern wählt die Motive des deutschen Schriftstellers und Dramatikers Hans Henny Jahn. Süßkow überträgt diese eigentlich im antiken Korinth spielende Tragödie außerdem in die westliche Moderne. So ist Medea weder Fremde im Land, Zauberin oder kaltblütige Rächerin, sondern ganz einfach Teil einer vollkommen „normalen“ Familie: Vater, Mutter und zwei Söhne. Doch auch in dieser Version des Stoffes geht es um Liebe, soziale Stellung und Macht. Nur werden diese Kämpfe nun nicht in einer Stadt – Korinth – und ihrer Gesellschaft ausgetragen, sondern die Situation wird auf das eigene Heim und die Familie heruntergebrochen.

Das Stück zeigt elementare Probleme einer Familie auf: die sich verflüchtigende Liebe eines Elternteils zum anderen, die Bevorzugung eines Kindes, Konflikte zwischen den Geschwistern, Konflikte zwischen den Eltern. Machtspiele. Wer hat die Familie im Griff? Jason oder Medea? Mal scheint es, als habe Medea alles unter Kontrolle, selbst Jason, im nächsten Moment schlägt dieser sie und würdigt sie herab, indem er sich vor anderen über sie lustig macht und sie als dumm und naiv darstellt. Und er ist fasziniert. Doch nicht von seiner sich kümmernden Ehefrau Medea, sondern vielmehr von einer attraktiven Blondhaarigen, die er Medea vorzieht und für die er sie verlässt.

Von diesem Punkt an geht es mit der Familie bergab. Als Medea dann noch eine Nachricht erhält, deren Inhalt man nur erahnen kann, entlädt sich ihre angestaute Wut auf Jason über der Überbringerin der Nachricht, die dabei verletzt wird. Die Kinder, welche alles gesehen haben, verlieren dadurch jegliches Vertrauen in ihre eigene Mutter und leben von nun an in Angst. Aber nicht nur die Beziehungen zwischen den Charakteren verändert sich, sondern auch die Personen selbst. Medea wird von der perfekten Hausfrau zu einer fahrigen, immer noch an ihrem Mann hängenden Mutter, die scheinbar gefasst ist, sich aber immer mehr in den Wunsch einer perfekten Familie hineinsteigert. Die Söhne, die sich in dieser haltlosen Zeit in eine inzestuöse Liebe zueinander zu retten versuchen, passen dabei nicht ins Bild. Aus Rachsucht an Jason oder aus Wut über das unzüchtige Verhalten der Brüder – so genau lässt sich das nicht erkennen – , erstickt sie ihre Kinder und inszeniert mit ihren leblosen Körpern ein ganz normales Abendessen und wartet auf Jason. Was bleibt ist eine vernichtete Familie.

Das Stück mischt Leichtigkeit und Brutalität. Einerseits der leichte, seichte Alltag und die durch Tänze dargestellte oberflächliche Fröhlichkeit und Perfektheit einer Familie, in der die eigentlichen Probleme unterdrückt werden, andererseits der Mord an den Söhnen in seiner ganzen unfassbaren Kaltblütigkeit. Auch wenn kein Wort gesprochen wird, gelingt es der Inszenierung, sowohl die Gefühle der Personen und deren Veränderung als auch das Geschehen deutlich werden zu lassen, auch wenn einzelne Details unklar bleiben.

Durch die Verkörperung Medeas als eine Frau der westlichen Moderne wirken ihre Taten, ihr Charakter und ihre Empfindungen nicht mehr fremd und fern wie in manch anderer Darstellung. Der Kindsmord, der sich sonst leicht in einer als barbarisch empfundenen Vergangenheit verortet lässt, die mit uns heute nichts mehr zu tun hat, auch wenn uns der tägliche Blick in die Zeitung eigentlich eines Besseren belehren müsste, wird dadurch mit aller Wucht in unsere Mitte gezerrt. Er ist gegenwärtig. Aber das hat nichts mit der herrschenden Moral zu tun, denn Kindsmord widerspricht allen als menschlich empfundenen Regungen, vollkommen jenseits von Zeit und Raum. Nein, es geht um etwas ganz anderes. Es geht um das Dunkle in jedem von uns, um das Unbeherrschbare, Zerstörerische, und es geht um die Furcht vor dem Moment, in dem dieses Dunkle hervorzubrechen und uns und alles, was uns wichtig ist, zu vernichten droht. Um diesen klitzekleinen Moment. Der Kindsmord – er ist hierfür letztlich nur die monströse und absolute Metapher.

 

Text: Leah Strobel

Bilder: Nadja Häupl

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„Du musst jetzt lernen die Ellenbogen auszufahren!“ – „Mit „echten“ Reden: Das Ellenbogen-Prinzip (1)“ von Tanja Krone in HELLERAU

Der Nancy-Spero-Saal erscheint in einem gemütlichen Licht, von einer Konstruktion an der Decke hängen lange, weiße Papierstreifen, hinter einem Pult steht eine Frau, greift in die Tasten und hält einen an die DDR gerichteten Monolog. Die Frau ist Tanja Krone und so beginnt am 30. Oktober ihre Inszenierung „Mit „echten“ Reden: Das Ellenbogen-Prinzip (1)“ im Festspielhaus Hellerau. Zusammen mit Frida Ponizil und Emma Rönnebeck, die nun aus ihren Verstecken hinter den Papierstreifen hervortreten, präsentiert sie den Zuschauern in diesem Stück die Ergebnisse aus 20 Gesprächen mit Familienmitgliedern, ehemaligen Lehrer*innen, Freunden und Freundinnen über die Wendezeit.

Zunächst stellen die Darstellerinnen sich selbst und ihre Rolle vor und nennen dabei Namen und Alter, als die Mauer fiel.

Nachdem Emma Rönnebeck und Frida Ponizil so tun als würden sie eine Tapete anbringen, fangen die Künstlerinnen an die Gespräche nachzusprechen. Dabei lesen sie die Texte nicht einfach vor, sondern schlüpfen in die Rollen der Zeitzeugen, sprechen und benehmen sich wie diese, was das Stück sehr lebhaft und unterhaltsam macht. Am Rand der Bühne steht eine Papierrolle, auf der man die jeweilige Gruppe der Erzählenden ablesen kann. Es gibt: Familie, Lehrer*innen, Jungs und Freundinnen. Zudem wird das Stück mit verschiedenen Musikstücken untermalt, die die Leute damals hörten oder selbst aufgenommen hatten.

Tanja Krone hat mit „Mit „echten“ Reden: Das Ellenbogen-Prinzip (1)“ ein Stück geschaffen, dass uns einen lustigen und informativen Einblick in die Wendewirren gibt. Es werden viele ernstere Themen angesprochen, die die Leute damals beschäftigten, aber vor allem der „normale“ Alltag in der Wendezeit, der DDR und der Umgang mit den Erinnerungen an diese Zeit kommen zum Ausdruck. Die Inszenierung ist genauso etwas für Zuschauer, die zu DDR-Zeiten aufgewachsen sind, als auch für jene, die diese Zeit nur aus Erzählungen kennen, denn sie vermittelt Wissen, regt auf diese Weise aber auch an, sich zu Erinnern. Ich denke, ich kann für viele Schüler*innen sprechen, wenn ich sage, dass man sich einmal eine Geschichtsstunde wünscht, die einen genauso lebhaften, informativen, anschaulichen und unterhaltsamen Einblick in frühere Zeiten gibt.

 

Text: Ingrid Hering

Bilder: Eva Lochner, Reinhard Krone