Nachbarschaft. Das klingt nach Gemeinschaft. Nach Nähe. Nach Hilfsbereitschaft. Aber meistens kennen wir unsere Nachbarn nicht. Eigentlich denken wir auch nicht groß über sie nach. Nur eben dann, wenn sie akustisch auffallen. Oder merkwürdig auffallen. Weil sie etwas tun, was uns fremd ist. Etwas wozu uns der Bezug fehlt. Dann werden wir misstrauisch, schätzen die Anonymität und gehen – ob bewusst oder unbewusst – womöglich sogar auf Distanz.
Künstlerische Vernetzung und kreative Weiterbildung
Das Motto des 3. Kinder- und Jugendtheaterfestival Wildwechsel, das vom 21. bis 24. September im TJG stattgefunden hat, lautete Nachbarschaft und befasste sich mit genau diesem Thema auf mehreren Ebenen. Nach Nordhausen und Weimar wurde der ostdeutschen Theaterlandschaft diesmal in Dresden eine Plattform des Austauschs geboten. Workshops und Weiterbildungen ermöglichten Pädagogen und Künstlern Vernetzung und die Erschließung neuer künstlerischer Perspektiven. Auch auf der Publikumsseite ging es über den Input des klassischen Theaterbesuchs hinaus. Zum einen wurde mit der Inszenierung „Generation XY“ das Publikum auf die Bühne geholt und im Rahmen der 2. Dresdner Zukunftswerkstatt der Kinder von Viertklässlern eine digitale Schnitzeljagd auf dem Gelände des Kraftwerk Mitte realisiert. Zum anderen unterstrich die Zusammenstellung einer Kinder- und Jugendjury, dass auch junge Besucher eine Meinung, einen Sinn für Ästhetik und einen bedeutsamen Blickwinkel auf Theateraufführungen haben.
„Kinder Ernst nehmen und nicht belehren“
So folgte in den Eröffnungsansprachen auf die allgemeinen Rahmenbedingungen des Festivals, die Erläuterung des Mottos, die Nennung der Sponsoren und Unterstützer, die Wichtigkeit der Erhaltung einer lebendigen Kinder- und Jugendtheaterszene durch Felicitas Loewe (Intendantin TJG) und Annekatrin Klepsch (Beigeordnete für Kultur und Tourismus der Landeshauptstadt Dresden) durch Redner Nummer 3 – Dr. Christoph Dittrich (Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen des Deutschen Bühnenvereins) – endlich auch eine tatsächlich direkt-zielgruppenspezifische Ansprache. Denn schließlich sind es die Kinder und Jugendlichen, die „Ernst genommen und nicht belehrt werden sollen!“, so Dittrichs Worte.
Eröffnungsstück „Der Junge mit dem Koffer“ – musikalischer Einstieg
Nach einem kurzen Umbau leitet der Burkinabe Ezekiel Nikiema am vorderen Bühnenrand musikalisch das Eröffnungsstück „Der Junge mit dem Koffer“ (Regie: Nis Sogaard) ein. Nikiemas Cover von „Heute hier, morgen dort“ des deutschen Liedermachers Hannes Wader sorgt für einen tollen, impulsiven, wenn auch ergreifenden Einstieg. Nikiema spielt und singt nicht einfach nur sehr gut, er steckt Gefühl, Freude und Dynamik in das, was er tut. Und er sucht den Augenkontakt zum Publikum. Er spielt nicht nur für sich. Er spielt für alle. Im Laufe des Stückes wird der Musiker auf seinem kleinen Plateau im linken Bühnenbereich sowohl mit Gitarre als u.a auch Schlagzeug, Trommel, Xylophon und Percussion die Reise des Jungen Naz akustisch und atmosphärisch sehr bereichern. Von Nikiemas Spielfreude könnten sich mancher Musiker durchaus was abgucken. Den Abschluss der Inszenierung bildet Nikiema erneut mit „Heute hier, morgen dort“ – eine gut durchdachte musikalische Rahmung des Stückes. Und der Beweis, dass auch ein deutscher Schlager frisch, modern und bunt klingen kann.
Bühnenbild
Die rechten zwei Drittel der Bühne gehören Naz und seiner Geschichte. Der Fokus des Bühnenbildes liegt auf einer mobilen rechteckigen Holzbühne, die mal als Haus, mal als Boot (imaginär) umgebaut wird und einem enormen Haufen an Kleidung, deren Einzelteile mal exzessiv angezogen, dann wieder rasant abgestriffen werden. Vom Bühnenbild zu den Requisiten und dem Kostüm der Schauspieler ist es somit ein fließender Übergang. Insgesamt ist das Bühnenbild ein sehr offenes, das lediglich am Bühnenende durch eine weiße Leinwand abgegrenzt wird. So kann sich die Erzählung frei entfalten und die Vorstellungskraft der Zuschauer angeregt werden.
Narration
Erzählt wird die Geschichte vom Jungen Naz, der sich von heute auf morgen mit seinen Eltern auf eine Reise begeben muss. Hektisch werden Sachen gepackt bzw. nicht gepackt und die Familie verlässt das vertraute Zuhause. Dort hatte Naz‘ Vater ihm immer Geschichten erzählt. Ganz besonders oft war das die Geschichte von Sindbad und seiner siebenten Reise. „Ist sie wahr?“ hatte Naz immer gefragt. Schließlich war es ja eigentlich nur eine Geschichte. So romantisch abenteuerlich wie Sindbad erlebt Naz seine Reise leider nicht. Naz erlebt beängstigendes Kugelgewitter, lähmende Warterei, schmerzhafte Trennung, notwendigen Verzicht, unfreiwilliges Alleinsein, misstrauisches Vertrauen, aber auch verlässliche Freundschaft, genügsames Glück, bedingungslose Hilfsbereitschaft und schließlich die erfolgreiche Ankunft an seinem einst so utopisch fernen Ziel – beim Bruder in London. Sowohl erzählerisch als auch im wörtlichen Dialog wird Naz‘ Reise wiedergegeben. Dabei wird immer wieder Bezug genommen zu Sindbad und seinen Reisen sowie zu anderen Geschichten, die Naz‘ Vater dem Jungen einst erzählte und in denen mit Weisheit und Witz zunächst komplizierte Situationen gemeistert werden. Genauso ergeht es auch „dem Jungen mit dem Koffer“. Seine Situation und die seiner Familie sowie Weggefährten ist grausam und dennoch gelingt es der Erzählung immerzu das Gleichgewicht zwischen dem Tragischen und dem berührend Witzigen zu halten.
Schauspiel und Puppenspiel
Dazu tragen auch die drei Schauspieler Patrick Borck, Viviane Podlich und Moritz Schwerin bei, die sich bei der Rollenverteilung abwechseln. Mal spricht Podlich aus der Sicht des Jungen, während Borck und Schwerin die Rollen der Eltern einnehmen. Dann ist es Schwerin, der Menschenschmuggler Borck und Flüchlingsmädchen Krysia gegenüber steht. Und dann gibt es Szenen, in denen sich einer der Schauspieler als stiller Zuhörer und kommentierender Beobachter unauffällig zurückzieht. Nicht nur Schauspiel kommt zum Tragen sondern auch Puppenspiel. Besonders warm wird einem als Zuschauer in der Szene direkt nach dem Schiffsbruch. Naz – diesmal in Form eines Stofftiers wird von einem französischen Paar (in klassischer leuchtend gelber Regenbekleidung) aus dem Wasser gerettet. Die Kommunikation funktioniert nicht einwandfrei. Während mit französischem Akzent überlegt wird, wer der Junge ist und wie man ihm helfen kann, versucht sich die Stoffpuppe mit händischen Gebärden zu verständigen. Schließlich dämmert den Franzosen, woher der Junge ungefähr kommen muss. Nämlich, dass er gerade eine Odyssee über das Mittelmeer oder den Atlantik hinter sich haben muss. „Dann ist er einer von denen, die Glück haben.“ – „Er braucht viel Schlaf. Und viel Kakao.“ – „Zuhause ist dort, wo dein Herz ist.“
Bezug zur atmosphärischen Erzähltradition
„Der Junge mit dem Koffer“ nimmt den Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes mit auf eine gedankliche sowie physische Reise. So findet zudem eine Bezugnahme zur afrikanischen (und orientalischen) Erzähltradition statt, die in den oft noch mündlich geprägten Kulturkreisen auch heute noch große Bedeutung hat. Während in westlichen Kulturkreisen die Alphabetisierung das freie atmosphärische Erzählen verdrängt hat, wird dies in vielen afrikanischen Gegenden noch praktiziert. Dabei kommen neben der reinen Geschichte auch Tanz und insbesondere Musik zum Tragen. Ein typisches Motiv, wie man es aus Märchen und Heldensagen kennt, ist das Motiv der Reise, die notwendig ist, um neue, nicht immer gute Erfahrungen zu sammeln und so Probleme am Ursprungsort lösen zu können. Auch Naz macht solch eine Reise. Sie hat den Jungen wachsen lassen und ihm die Wahrheit vieler noch so romantisch-abenteuerlich anmutender Dinge offenbart. „Manchmal sehen die Dinge aus wie etwas, das sie nicht sind.“ Am Ende meint der Bruder zwar: „Du hättest nicht kommen sollen. Es ist hart hier.“ Dabei bezieht er sich jedoch auf die nostalgischen Erinnerungen an seine Heimat vor dem Ausbruch des Krieges. „Du hast deinen Koffer noch nicht ausgepackt“, fährt der Bruder fort. Naz antwortet: „Da ist nichts drin.“ Somit steht der Koffer letztlich auch als Sinnbild für all die neuen Erfahrungen, Eindrücke, all das Grauen, den Mut, die Zeit, den Schmerz, die Geschichten und vor allem für das Bedürfnis nach Identität, Dazugehörigkeit und eben einem Zuhause.
Fazit
Wie sie oft im Kinder- und Jugendtheaterbereich erhalten viele Stücke leider nicht die verdiente Aufmerksamkeit. Ein Stück für Kinder ab 10 Jahren wird als Kinderstück abgestempelt und eher nicht von Theaterinteressierten ab 20+ besucht. Dabei werden die Themen Rassismus, Krieg und Flüchtlingskrise wohl mindestens genauso, wenn nicht sogar noch verständlicher und vor allem künstlerisch bemerkenswerter vermittelt als in Stücken, die für ein „erwachsenes“ Publikum geschrieben und inszeniert werden. Somit erinnert „Der Junge mit dem Koffer“ auch an John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“, der aus Kindersicht aufdeckt, wie absurd Fremdenhass, Krieg und Diskriminierung sind.
Das selbstverständliche Zusammenspiel von Schauspiel, Puppenspiel, Bühnenbild, Musik und Text beweist, wie sehr sich Schauspieler, Musiker und all die unsichtbaren Künstler im Hintergrund in diese Inszenierung reingekniet haben. Ein Must-See, das Kinder und Erwachsene gleichermaßen zum Nachdenken, Überdenken und Durchdenken anregt.