Einfach mal dem Gegenüber in die Fresse schlagen. Wollten das nicht alle weiblich gelesenen Personen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, schonmal machen? Wär das nicht eine anständige Antwort auf mansplaining, ungefragtes Flirten oder dick-pics?
„RAGE“ von Emilienne Flagothier bringt diese Fantasie auf die Bühne. Während des Festivals „Fast Forward – Festival für junge Regie“ spielten vier weiblich gelesene Personen aus Belgien am 14. und 15. November alltägliche Situationen im Kleinen Haus des Staatsschauspiels nach, in denen Sexismus und Sexualisierung von Männern ausgeht. Von ungefragter Penetration an der Bushaltestelle über Unwissenheit in der Küche bis hin zu einem – bestimmt liebgemeinten, aber sehr oberflächlichem Liebeslied – jeder Lebensbereich wurde abgedeckt und ich bin mir sicher, jede weiblich gelesene Person im Raum konnte mindestens eine dieser Situationen nachvollziehen. Genau das war es, was diese Inszenierung zu einem brillant persönlichen und emotionalem Theaterstück machte. Der Twist an der Sache? Am Ende von jeder Alltagsszene werden die blutigen Phantasmagorien (Wahrnehmungstäuschungen) der unterdrückten Perspektive ausgelebt und ein Albtraum für die männliche Perspektive zur Realität – auf verschiedenste Weise werden diese, mal mit, mal ohne sich zu wehren, umgebracht und der Sexualisierung ein Ende gesetzt. Aber Achtung, nichts für Schwache Nerven: durch realistische Live-Soundeffekte hört man Schmatzgeräusche, Prügelschläge, Schwertkämpfe sowie –wunden und Genickbrüche.
So sehr, wie wir aus dem Lachen nicht mehr rauskamen, kam ich aus dem Nachdenken nicht raus und hoffe, dass auch die männlichen Zuschauer im Raum einen ähnlichen Effekt spürten. So wollten es immerhin die Menschen auf der Bühne: dass sich bestimmte Personen angesprochen fühlen und beginnen zu reflektieren.
Mich beeindruckte die Professionalität der Performerinnen sehr, denn zwischen all den lustigen, peinlichen und abstrusen Szenen gab es nie einen ungeplanten Lacher auf der Bühne – ich hätte das wahrscheinlich nicht ausgehalten. Aber die Zuschauer*innen konnten trotzdem erleben, dass die vier Menschen auf der Bühne unglaublichen Spaß während des Auftritts gehabt haben müssen, das ist ein sehr wertvoller Eindruck, der mir direkt das Gefühl gegeben hat, auch gerade sehr gern auf dieser Bühne stehen zu wollen.
Neben den herausragenden Schauspielkünsten der Performerinnen wurde die Brillanz des Stücks „RAGE“ durch die Kostüme noch verstärkt. Um in wechselnder Besetzung zwischen männlich und weiblich differenzieren zu können, klebten sich die „Männer“ für die Szene Schnurrbärte auf – eine eh schon absurde Situation wurde mit minimal Aufwand so maximal absurder gestaltet – loved it! Zusätzlich zu den Klebebärten führten unsichtbare Pferde, abfliegende GLIEDmaßen und eine stets aufrechtstehende Sprachbarriere (das Stück lief auf französisch mit deutschen und englischen Übertiteln, die durch „Tschüssi“ allerdings kurz gestürzt wurde) zur absoluten Amüsiertheit des Publikums während der fast zwei Stunden Sexismus und Sexualisierung – doch eher ernste Themen.
Doch auch durch den generellen dramaturgischen Aufbau wurde das Stück ein besonderes. Am Anfang, in der Mitte und am Ende des Stücks kommunizierten die Performerinnen mit den Zuschauer*innen per Text, der auf eine Leinwand gebeamt wurde. Es war ein wirklich netter und humorvoller Bruch der nicht so leicht zu verarbeitenden Szenen. Zum Ende hin produzierten wir als Publikum zusammen mit den Menschen auf der Bühne Regen (bzw. regnerische Atmosphäre), denn schon zu Beginn des Stücks spielten die Performer*innen mit Regen- und Sturmelementen. Ein sehr schöner und emotionaler Moment, wenn alle im Raum zusammenarbeiten, um eine atemberaubende Geräuschkulisse zu schaffen.
Was ich außerdem sehr angenehm fand: keine Szene gleicht der anderen, wir wussten nie, was uns erwartet und auf eine Szene mit Strobo und lauter Musik folgte eine eher ruhige, gelassene Szene. Es war ein perfekter Mix an Szenen und Stimmungen, mit etwa 110 Minuten eine perfekte Länge, obwohl mich auch ein längeres Stück absolut nicht gestört hätte, da es so Spaß gemacht hat dabei zu sein! Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die belgische Produktion „RAGE“ ein wirklich sehr gelungenes Stück ist und ich es jedem Menschen ans Herz lege, sich es (bei Gelegenheit) anzugucken, zu lachen und nachzudenken. Ich bin noch nie so gut gelaunt aus einem Theaterstück gegangen, wie ich es bei diesem getan hab und noch kein Stück hat mir so gute Inside-jokes geschenkt!
Helene Lindicke