Es ist ein lauer Juliabend. Vor dem stetigen Zirpen der Grillen hört man Leute lachen und reden, zwei Mädchen schwingen auf den Schaukeln des Kulturgartens vor und zurück. Zehn Minuten später: weiße Stille. Nur leise hört man das Rascheln des Flyerpapiers, die letzten Leute, welche sich im Großen Saal des Hellerauer Festspielhauses tummeln. Auf der Bühne steht eine weiße Treppe; versteckt in einer Ecke hinter den Zuschauerreihen kann man einen Mann erkennen, welcher eine große Anzahl an Perkussionsinstrumenten um sich angehäuft hat: ein Schlagzeug, ein Thundersheet, ein Launchpad,…
Der Mann heißt Sascha Mock und ist für die Musik des „Geometrischen Balletts“ zuständig. Dieses wurde 2019 im Rahmen des Festivals „Appia Stage reloaded“ in HELLERAU uraufgeführt, seine Wurzeln liegen aber viel tiefer in der Tanzgeschichte. Wie der Titelbeisatz schon besagt, ist das Werk dem „Triadischen Ballett“ Oskar Schlemmers gewidmet, welches eng mit der Geschichte des Festspielhauses verknüpft ist. Während eines sechsmonatigen Fortbildungsurlaubes in der „Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus“ von Émile Jaques-Dalcroze, wie das Festspielhaus damals hieß, kam dem Tänzerehepaar Albert Burger und Elsa Hötzel die Idee für ihr Ballett. Noch im selben Jahr konnten sie Oskar Schlemmer zur Mitarbeit überzeugen, welcher unter anderem die Kostüme für die Vorführung kreierte und bei der Uraufführung 1922 in Stuttgart unter dem Pseudonym Walter Schoppe tanzte.
Ähnlich dem „Triadischen Ballett“ arbeitet auch das „Geometrische Ballett“ mit großen, aus geometrischen Formen zusammengesetzten Luftkleidern, Körperpappen, und -masken. In Ansätzen wurde das Stück schon 1991/92 in Braunschweig aufgeführt, schon vor über zehn Jahren gab es die Bestrebungen der Bildhauerin Ursula Sax, das Stück in Hellerau aufzuführen, was allerdings erst im Bauhausjahr 2019 realisiert wurde. Durch die Zusammenarbeit renommierter Künstler wie Ursula Sax, Katja Erfurth, Sascha Mock und Ted Meier entstand so ein Werk, welches die Grenzen zwischen Tanz, Performance, Skulptur, Musik und Lichtkunst verschmelzen lässt.
Im Saal ist nun absolute Ruhe eingekehrt, alle schauen gebannt auf die weiß angestrahlte Bühne. Kurz geht das Licht aus und nur durch eine zentral hängende warmweiße Glühlampe werden die hereinkommenden Tänzer beleuchtet. Sie bewegen sich langsam in ihren weißen Körperpappen, wiegen sich im Takt der verspielt anmutenden Musik.
Das „Geometrische Ballett“ ist ein Werk voller Kontraste, welche sich gegenseitig verstärken und zusammenspielen. Ruhige Szenen folgen auf Bewegte, laute auf leise Musik, rotes Licht wird neben grünem eingesetzt, die Bühne erscheint mal in warmen mal in kühlen Farben, gerade Kanten aus schwerem Filz treffen auf schwebende Kreisformen. Besonders fallen die Kostüme auf. Es gibt geometrische Formen aus harter Pappe, in welche die Tänzer hineinsteigen, Figurinen aus Filz und bodenlange Körpermasken aus leichtem fließendem Stoff. Letztere verändern sich durch die Bewegungen der Tänzer; wenn diese in die Hocke gehen strömt Luft in Ausstülpungen im Stoff, welche sich nach allen Seiten aufrichten. Durch ihre Länge wirkt es außerdem oft so, als würden die Tänzer durch den Raum schweben.
Doch auch in der Perfomance lassen sich Gegensätze entdecken, oft meint man Spuren menschlicher und tierischer Kommunikation zu erkennen. So wird mir eine Szenenfolge besonders in Erinnerung bleiben: Zunächst sieht man einen Tänzer, welcher sich mit einer riesigen weiße Fahne über die Bühne bewegt. Durch den Luftzug füllt sich diese allerdings auf, so dass es aussieht, als würde ein großer Wal durch den Saal schwimmen. Dieser Eindruck wird verstärkt, durch das blaue Licht, welches die Schatten des Wales aussehen lässt wie Wellen im Wasser. Plötzlich legt der Tänzer sich auf den Boden, deckt sich mit dem Stoff zu und zwei weitere Tänzer kommen auf die Bühne. Sie tragen ein großes Tuch mit schlauchartigen Ausbuchtungen, in welche andere Tänzer ihre Arme stecken. Ähnlich einem Puppentheater werden diese nun ihre Hände bewegen und miteinander interagieren; dazu hört man menschenähnliche Geräusche. Die Situation erscheint sehr komisch, das Publikum schmunzelt, vereinzelt hört oder sieht man jemanden lachen, doch die wenigsten scheinen sich dies so recht zu trauen.
Alles in allem erscheint einem das „Geometrische Ballett“ recht schlicht: es gibt viele gerade Formen, kaum Requisiten und ein einfaches Bühnenbild. Selbst im Zuschauerraum setzen sich die klaren Strukturen fort, denn die Abstandsregeln sind durch weiße Stuhlhussen markiert. So ist nur jeder dritte Platz besetzt, von der letzten Reihe aus betrachtet sieht man also zunächst viele diagonale Linien aus Zuschauern, bis der Blick auf die Bühne fällt. Dennoch ist das Stück keinesfalls langweilig; durch die verschiedenfarbige Beleuchtung ändert sich stetig die Farbwirkung der Kostüme und aufgrund der tiefen Basstöne kann man die Musik bis in die Fingerspitzen spüren.
Nach anderthalb Stunden verlassen wir mit noch vom Applaus kribbelnden Handflächen den Großen Saal und treten aus dem beleuchtetem Flur des Festspielhauses auf den von der Dämmerung eingenommenen Parkplatz. Hier verlaufen sich die Wege der Zuschauenden, die einen steigen in die Straßenbahn, andere genießen noch einen Spaziergang durch die Hellerauer Gartenstadt, welche in der lauen Juliluft zu schlummern scheint.
Text: Ingrid Hering
Foto: Peter Fiebig