Es gibt etwas, was jeder Mensch einmal im Leben durchmachen muss. Eine Verwandlung. Vollkommener Umbau von Körper und Geist. Auch Pubertät genannt. Doch was haben diese Veränderungen mit der Verwandlung Gregor Samsas in ein Ungeziefer zu tun? Der Zusammenhang liegt eigentlich auf der Hand: Sowohl Teenager als auch Samsa müssen mit den Veränderungen zurechtkommen. Sie verwandeln sich für sich selbst nicht weniger als für ihr Umfeld. Man wacht zwar nicht eines Morgens auf und findet sich in einem neuen Körper wieder, doch die Veränderungen kommen scheinbar über Nacht. Stimmbruch, die erste Regelblutung, Pickel. Zunächst natürlich ein Schock. Und alle müssen versuchen, sich mit ihrem neuen Körper und den neuen Gedanken, die meist rebellisch sind, anzufreunden.
Auch wenn es nicht undenkbar wäre, dass sich erfahrene erwachsene Schauspieler in die Rolle pubertierender Teenager zurückversetzen, wurde trotzdem eine bessere und viel näherliegende Lösung gefunden. Zwölf Teenager und junge Erwachsene, die im Vorhinein bei einem Casting ausgewählt wurden, übernehmen die Rollen in dieser Inszenierung der Bürgerbühne.
Auf der Bühne im Kleinen Haus steht ein in Räume unterteilter und einer Wohnung ähnlicher großer Würfel, der von den jungen Schauspielern bis ins letzte Eck bespielt wird. Auch der Raum vor dem Würfel bleibt nicht ungenutzt, so dass die Bühne vollständig in Besitz genommen wird. Das Stück vermischt das real anmutende Leben eines Jugendlichen mit dem Gregor Samsas und schafft so einen direkten Bezug zwischen der Verwandlung Gregors und den Verwandlungen in der Pubertät. Wutausbrüche. Die Frage: „Muss ich so sein wie die anderen?“. Die Suche nach der eigenen Sexualität. Probleme mit den Eltern. All dies und viele weitere Themen und Fragen, die Jugendliche beschäftigen, werden aufgegriffen und teilweise auf ernste, teilweise auf lustige Weise in Szene gesetzt. In vielen Situation erkennt man sich selbst wieder, so dass das Stück einem nahekommt und sich von den sonst absurden und dunklen Geschichten Kafkas entfernt. Durch die Verschränkung alltäglicher Themen mit dem irrealen Roman wurde etwas geschaffen, was sich nur schwer beschreiben lässt. Man wird zum Augen- und Ohrenzeugen des brutalen Umgangs des Vaters mit Gregor, so wie ihn Kafka erzählt, und man verfolgt die Veränderung der Schwester Grete, die Gregor zu Beginn verteidigt und umsorgt, schließlich aber hoch oben über dem Publikum steht und fordert, dass Gregor, das Ungeziefer vernichtet werden muss, wegmuss. Diese Entwicklung ist durchwoben mit all jenen Gedanken und Gefühlen, die Teenager Tag für Tag beuteln. Man fühlt mit den Figuren, fragt sich, aus wessen persönlichen Erfahrungen sich diese Rollen speisen – aus denen der jungen Schauspieler oder jenen des Regisseurs, Philipp Lux? Man identifiziert sich mit ihnen und will eigentlich gar nicht aufhören, ihre Art, mit der Pubertät umzugehen, zu beobachten. Das Stück ist eine große Suche nach sich selbst. Danach, wie man sich selbst akzeptieren und lieben lernt. Ein langer Weg, Veränderungen anzunehmen.
„Die Verwandlung“ auf der Bürgerbühne ist ein absolutes Muss – für alle, die die Pubertät noch einmal durchleben möchten (sei es, weil sie sich noch einmal in ihre Jugend zurückversetzten lassen oder die Lebenswirklichkeit ihre Kinder verstehen wollen), für alle, die selbst gerade mitten drin stecken in diesem Abenteuer (oder Ungeheuer?), Pubertät, für alle, die im Begriff sind, sich in ein Ungeziefer zu verwandeln, aber auch für all die anderen, die sich einfach nur mit einem der faszinierendsten Autoren des vergangen Jahrhunderts auseinander setzten möchten.